Tallinn – die Unerreichbarkeit des Wassers
Viele Hafenstädte nutzen den Vorzug der Wasserlage für attraktive Stadträume. Tallinn hat dieses Potenzial lange unbeachtet lassen müssen. Doch nach und nach entwickelt sich die Wasserkante der estnischen Hauptstadt, und man findet eine Vielfalt an Kultur, Freiräumen, neuer und alter Architektur.
Text: Lülfsmann, Ina, Berlin
Tallinn – die Unerreichbarkeit des Wassers
Viele Hafenstädte nutzen den Vorzug der Wasserlage für attraktive Stadträume. Tallinn hat dieses Potenzial lange unbeachtet lassen müssen. Doch nach und nach entwickelt sich die Wasserkante der estnischen Hauptstadt, und man findet eine Vielfalt an Kultur, Freiräumen, neuer und alter Architektur.
Text: Lülfsmann, Ina, Berlin
Estlands Geschichte ist geprägt von politischer Abhängigkeit. Erst 1991 erlangte das baltische Land endgültig seine Souveränität als Staat mit der Hauptstadt Tallinn. Nachdem die Esten in der Vergangenheit von Dänen, Schweden, Deutschen und Russen beherrscht worden waren, erkämpften sie sich erstmals im estnischen Freiheitskrieg 1918–1920 ihre Unabhängigkeit. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie mit der russischen Okkupation im Juni 1940 beendet.
Die Stadt Tallinn, bis 1918 Reval, spielte schon seit dem Mittelalter eine zentrale Rolle, als Hauptstadt und Mitglied der Hanse und mit ihrer günstigen Lage an der Ostsee. In den Jahren der ersten Unabhängigkeit hatte Estland Schwierigkeiten, wirtschaftlich mit anderen europäischen Staaten zu konkurrieren. Nach wenigen Jahren Anlaufzeit entwickelte sich Tallinn aber zu einer weltoffenen nordischen Hauptstadt. Die russische Besetzung stoppte diese Entwicklung.
Während der Zeit als Hauptstadt der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik (SSR) war das Ostseeufer Tallinns für die Bevölkerung weitgehend unzugänglich. Mit dem Tod Stalins 1953 entspannte sich die gesellschaftliche und politische Situation in den baltischen Ländern zwar, dem folgenden schnellen Wachstum der Wirtschaft lag aber kein umfangreicher Stadtentwicklungsplan zugrunde. Vorrangige Beachtung fanden Wohnungsbauprogramme in den Vororten. Die Hafengebiete blieben der Industrie und dem Militär überlassen, wurden geradezu planlos bebaut und versperrten damit den Zugang zum Meer.
Sowjetisches Erbe
1980 fanden die Olympischen Sommerspiele in Moskau statt. Aufgrund der ruhigen Strömungsverhältnisse in der Bucht von Tallinn wurden die Segelwettbewerbe dort ausgetragen. Als Veranstaltungsort entwarf der estnische Architekt Raine Karp zusammen mit Riina Altmäe den W.-I.-Lenin-Palast für Kultur und Sport, heute Tallinna Linnahall (Tallinner Stadthalle). Die Architektur weckt mit ihrer streng symmetrischen Form Assoziationen zu mesoamerikanischen Stufenpyramiden oder zu mittelalterlichen Festungsanlagen. Womit man sie auch vergleicht, die Linnahall ist ein gigantisches Betongebilde, welches das Bild vom Hafen Tallinns prägt und ein beliebter Ort für Spaziergänger und Touristen, an dem sich zu später Stunde Jugendliche und Nachtschwärmer treffen.
Raine Karp hatte mit dem Entwurf bereits im Blick, auch das Umfeld der Halle und die Ostsee wieder mit der Stadt zu verknüpfen. Die riesige begehbare Dachlandschaft setzt diese Beziehung bis heute um. Von offizieller Seite war vor allem die Gewährleistung der Sicht vom Wasser aus auf die Tallinner Altstadt ein gewichtiges Entwurfskriterium, die für die Olympischen Spiele einer umfangreichen Sanierung unterzogen worden war. Damit setzte die Stadt die Neudefinition ihrer Wasserkante noch vor dem großen Umbruch in den neunziger Jahren in Gang. Es sollten allerdings noch weitere zwei Jahrzehnte ins Land gehen, bis wirkliche Veränderungen spürbar wurden.
Die Linnahall ist über die Zeit hinweg Objekt verschiedener Debatten gewesen. Während der Bauzeit (1976–1980), in der Hochphase der Postmoderne, kritisierten viele die Größe und Rationalität des Gebäudes. Nach der Unabhängigkeit wurde sie von den Einwohnern als sowjetisches Monument kontrovers diskutiert. Auch wenn sich in den neunziger Jahren hier viele Möglichkeiten für allerlei Vergnügungen boten – ein Nachtclub, eine Bar, Säle für Musik- und Theaterevents – wurde die Stadthalle mehr mit Missachtung als mit Stolz betrachtet und begann zu verfallen. Trotz allem wurde das Gebäude 1997 unter Denkmalschutz gestellt, was es Anfang des neuen Jahrtausends vor dem Abriss durch Kaufinteressenten des Areals bewahrte.
Auch wenn die letzten öffentlichen Veranstaltungen 2010 stattfanden – danach war eine weitere Nutzung aufgrund der vermehrten Bauschäden nicht mehr möglich –, ist inzwischen die Unterstützung durch die örtliche Öffentlichkeit groß. Die Linnahall wird als Teil der Stadtgeschichte akzeptiert und prägt die Identität Tallinns mehr als die neu gebauten Investorenhochhäuser in der Innenstadt, die sich in die Monotonie zeitgenössischer Großstadt-Architektur einreihen. Auch im Tallinner Stadtrat wurde seit 2015 mehrfach über eine mögliche Renovierung der Stadthalle verhandelt, wie es weiter geht, ist zurzeit jedoch unklar. Wegen ihrer eigenwilligen Erscheinung gewinnt die Linnahall zunehmend an Beliebtheit. Sie hätte das Potenzial, den Brückenschlag zwischen der Stadtentwicklung der Vergangenheit und der Zukunft zu schaffen.
Industrie und Militär
Mit dem Slogan der „Öffnung Tallinns zum Meer“ deutete sich bereits 2007 an, dass die Verwaltung die Notwendigkeit einer gut erreichbaren Küste in der Stadt erkennt. Die Ernennung Tallinns zur Kulturhauptstadt Europas 2011 führte dann zu einem weiteren Fortschritt bei der Erschließung der Ostsee: Die „Kulturmeile“ – eine grob angelegte, scheinbar provisorische „Promenade“ entlang des Wassers – ebnet seither den Weg von der Linnahall Richtung Lennusadam, dem alten Wasserflugzeughafen, wo sich heute das Maritime Museum befindet.
Die Sanierung Lennusadams setzte vor etwa zehn Jahren den ersten kräftigen Impuls in der Hafenneugestaltung. 1917 gebaut, war der Hangar des ehemaligen Wasserflugzeughafens im Nordwesten Tallinns die erste bekannte Schalenkonstruktion aus Stahlbeton dieser Größe. Er war baufällig, sodass eine Instandsetzung nach der Beurteilung von Gutachtern jahrelang als aussichtslos galt. Gleichwohl sollte diese historische Struktur erhalten bleiben, weshalb die Stadt 2009 einen Wettbewerb zur Umnutzung als Museum auslobte. Das estnische Architekturbüro KOKO gewann den ersten Preis und begann 2010 mit der Sanierung. Die Architekten wollten die einprägsame Gesamterscheinung des Bauwerks bewahren und arbeiteten mit Ingenieuren der Technischen Universität Tallinn zusammen, um der komplexen Konstruktion des Gebäudes gerecht zu werden. 2013 erhielten sie den Europa Nostra Award (Preis der Europäischen Union für das Kulturerbe) für diesen „technisch komplizierten und vielschichtigen Prozess“ der Instandsetzung.
Aktueller Städtebau
Es zeigt sich, dass Tallinns Biografie in unterschiedlicher Ausprägung immer schon mit der See zusammenhängt. Der Bau des Wasserflugzeughafens zu Beginn des 20. Jahrhunderts, den die Russen für die Überwachung des Finnischen Meerbusens nutzten, ist dabei das dritte Element am Ufer des küstennahen Stadtteils Kalamaja: Ein Jahrhundert zuvor, 1828, hatte der russische Zar Nikolaj I. in unmittelbarer Nachbarschaft die Seefestung Patarei bauen lassen. Sie diente bis 2002 als Haftanstalt. Im Jahr 1912 gründeten zwei Geschäftsleute aus St. Petersburg, Emanuel Nobel und Arthur Lessner, direkt daneben in Kalamaja die wchtigste Werft für U-Boote und Schiffe Russlands. Die Werft prägt den Tallinner Hafen ähnlich wie Linnahall und Lennusadam – es war also nur eine Frage der Zeit, bis das Gebiet Teil der Hafenneugestaltung wurde. Rund um die instandgesetzten, umgenutzten Industriebauten entsteht derzeit das Stadtviertel, „Noblessner“, benannt nach den Gründern der Werft.
2001 übernahm der örtliche Stahl- und Schiffsbaubetrieb BLRT Grupp die Werft, in der bis 2018 weiterhin Schiffe gebaut und repariert wurden. Noch während des Betriebs wurde 2009 in einer der Industriehallen ein erstes Konzert veranstaltet. Die Zuschauer kamen über den Wasserweg, da es keine andere Möglichkeit des Zugangs gab. Das war wohl die Initialzündung für die weitere kulturelle Nutzung des Gebiets. 2017 realisierte BLRT zusammen mit dem estnischen Bauentwickler Merko die ersten vier Wohngebäude mit Blick direkt aufs Wasser. Bis 2022 sollen sechs weitere folgen. Teil des Projekts ist auch die Sanierung der historischen Hallen, die dem neuen Quartier seine besondere Atmosphäre verleihen. Ein Kunstzentrum, Veranstaltungsräume, Geschäfte, Büros, ein Technoclub, Gastronomie und die „Proto Invention Factory“, ein interaktives Museum rund um die bedeutenden Erfindungen der Menschheit, sind mittlerweile in die alten Gebäude gezogen.
Zukunftsweisender Auftakt
Aktuelle Stadtentwicklungsprojekte wie das Noblessner-Quartier zeigen, dass Tallinn sich mitten in einer Phase von Neuerung und Umstrukturierung befindet. Kaum erschlossene Orte wie die alte Seefestung erhalten dabei den gebrochenen Charakter der Stadträume. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Reiz der Differenz erhalten bleibt.
Zwei geplante Großprojekte von Zaha Hadid Architects (ZHA) lassen eine ganz andere städteplanerische Richtung erahnen: Der alte Hafen, der östlich an die Linnahall angrenzt, soll von ZHA nach einem gewonnenen Wettbewerb bis 2030 zu einem weiteren seenahen Stadtviertel ausgebaut werden. Außerdem ersetzen die Londoner Architekten den Ülemiste Bahnhof im Südosten der Stadt, der Neubau wird Haltepunkt der zukünftigen Hochgeschwindigkeitsstrecke Rail Baltica. Damit wird Estland über Riga und Kaunas mit Warschau verbunden sein und erhält Anschluss an das westeuropäische Schmalspur-Schienennetz. Ein weiterer Ausbau der Strecke nach Helsinki durch einen Tunnel unter der Ostsee wird derzeit diskutiert.
Estland stellt mit all diesen Projekten in der Hauptstadt seine zukunftsgewandte Offenheit unter Beweis. Mit der Unabhängigkeit 1991 grenzte sich die Regierung deutlich von der sozialistischen Vergangenheit und ihrer Planwirtschaft ab. Eine stark marktwirtschaftliche Ausrichtung und Kooperationen mit Finnland und Schweden gaben dem Land den Spitznamen „Baltischer Tiger“. 2004 wurde Estland bereits Mitglied von EU und NATO und ist heute in Europa Vorreiter in der Digitalisierung der Verwaltung sowie im Testen von neuartigen, kostenfreien Nahverkehrskonzepten. Diese Entwicklungen in dem kleinen Land finden große Beachtung. Man darf gespannt sein auf ihre Auswirkung hinsichtlich weiterer Städtebauplanungen.
0 Kommentare