Ein Baum als Modell für den Wohnbau
Fritz Matzingers Architektur-Konzept bewährt sich seit Jahrzehnten, an unterschiedlichen Orten, in Gestalt der jeweiligen Entstehungszeit und für unterschiedliche Bewohnerkonstellationen. Doch obwohl es immer noch als zukunftsweisend gilt, wurde es bislang wenig aufgegriffen – warum nur?
Text: Seiß, Reinhard, Wien
Ein Baum als Modell für den Wohnbau
Fritz Matzingers Architektur-Konzept bewährt sich seit Jahrzehnten, an unterschiedlichen Orten, in Gestalt der jeweiligen Entstehungszeit und für unterschiedliche Bewohnerkonstellationen. Doch obwohl es immer noch als zukunftsweisend gilt, wurde es bislang wenig aufgegriffen – warum nur?
Text: Seiß, Reinhard, Wien
„Les Palétuviers“, zu Deutsch „Mangrovenbäume“ oder „Luftwurzler“, nennt Fritz Matzinger seine Atriumhäuser, die auf seinem vor über vierzig Jahren entwickelten Modell des nachbarschaftlichen Wohnens basieren. Der Name geht zurück auf die für ihn prägende Begegnung mit Dorfgesellschaften in Côte d’Ivoire, die regelmäßig unter den schattenspendenden Bäumen zusammenkommen, versinnbildlicht aber auch den programmatischen Ansatz des Architekten: Mehrere Familien, sie entsprechen den Wurzeln eines Baums, errichten miteinander ein Haus, das dem Baumstamm entspricht – und wenn sich alle in diesem Haus wohlfühlen, erwächst daraus eine neue Gemeinschaft: die Baumkrone. Fritz Matzinger schreibt den Innenhöfen beziehungsweise Atrien seiner Häuser, auf die alle Wohnungen ausgerichtet sind, gern die Funktion eines Dorfplatzes zu. Dieser soll der weitverbreiteten Isolation der Menschen, insbesondere von Kindern und Jugendlichen in klassischen Einfamilienhäusern ebenso wie im herkömmlichen Massenwohnbau entgegenwirken, ganz im Sinne des afrikanischen Sprichworts: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen.“
36 solcher „Dörfer“ hat Fritz Matzinger seit 1975 gemeinsam mit den Bewohnern errichtet: manchmal ein nur einzelnes Hofhaus mit im Schnitt acht Wohnungen, oft aber auch zwei oder drei Atriumhäuser im Verbund. Mehr als 500 Wohnungen an 21 Standorten wurden so bisher realisiert, und gleich mehrere befinden sich in Planung und Bau. Auffallend ist, dass zwar allen Anlagen dasselbe Konzept zugrunde liegt, jede aber komplett anders aussieht. Matzingers Architektur reicht von den aus heutiger Sicht schon wieder „kultigen“ Formen, Farben und Materialien der siebziger Jahre über die Postmoderne der Achtziger mit Erkern, Torbögen, pastellfarbigen Anstrichen und auch mal einem roten Ziegeldach bis hin zu Häusern mit Holzfassaden aus den ökologischen neunziger Jahren und der sachlichen Moderne unserer Tage. Schnell wird klar, dass hinter all dem ein Architekt steht, der den Bewohnern nicht seine ästhetischen Vorstellungen aufdrängt, sondern für die Menschen und mit den Menschen plant, dabei souverän mit unterschiedlichen Gestaltungsansätzen arbeitend. So ist jedes Haus Ausdruck des Geschmacks und Gestaltungswillens seiner Erbauer und Nutzer – aber auch deren Innovationsfreude und Experimentierlust, die Fritz Matzinger großen Spielraum in konstruktiven, energetischen, ökologischen und ökonomischen Fragen geben.
Unendlich variantenreich
So sind die Maisonetten in den drei Atriumhäusern in Raaba bei Graz, die Matzinger 1978 bis 1979 noch in der von ihm anfangs bevorzugten Raumzellenbauweise errichtete, zusätzlich durch eine Treppe im Hof erschlossen. Dies ermöglicht leicht teilbare und je nach Bedarf wachsende oder schrumpfende Wohneinheiten. Für die unkonventionelle Gestaltung der gemeinschaftlichen Gartenanlage wiederum wurde nach einer Idee des niederländischen Architekten und Öko-Pioniers Louis le Roy Abbruchmaterial verwendet.
Das Prinzip der flexiblen Wohnungsgrößen zeigen auch die drei Atriumhäuser von 1985 im salzburgischen Hallein. Stets um ein sehr kostengünstiges Bauen bemüht, setzte Matzinger hier erstmals auf eine Holzskelettbauweise, die er so konzipierte, dass die Bewohner sie weitgehend durch Eigenleistungen realisieren konnten. Langfristig kostensenkend wirkte zudem der Einsatz von damals noch unüblichen Grundwasserwärmepumpen und Niedrigtemperaturheizkörpern.
Wie flexibel Matzingers Atriummodell ist, zeigt das 1998 bis 2000 verwirklichte Projekt Guglmugl am Stadtrand von Linz (Bauwelt 45/2009). Aufgrund des stark hängigen Geländes bilden die Wohneinheiten hier keinen quadratischen Hof, sondern erstrecken sich in zwei parallelen, langgezogenen Zeilen das steile Grundstück hinauf. Das Atrium verläuft dazwischen wie ein Treppenweg durch ein Bergdorf, der sich vor den Wohnungseingängen immer wieder zu kleinen Plätzen aufweitet. Wie üblich fungiert der glasgedeckte Freiraum auch hier als großzügiger Wintergarten, den Fritz Matzinger – das Gefälle nutzend – noch um einen Wasserfall ergänzte. Beeindruckend ist die Vielzahl an Gemeinschaftseinrichtungen innerhalb und auch abseits des Atriums: eine Festebene, eine kollektive Küche, eine Bibliothek, das obligate Hallenbad samt Sauna, im Untergeschoss ein großer Veranstaltungsraum und ein Weinkeller sowie draußen ein gemeinschaftlicher Gemüsegarten, ein Sport- und ein Spielplatz.
Das Besondere an diesen 32 Wohnungen ist aber die Qualität der privaten Freiräume. Entsprechend der Topographie stufte der Architekt die zwei- bis fünfgeschossigen Maisonetten terrassenartig ab und schuf auf dem Flachdach jeder Einheit einen großzügigen Grünraum für die oberhalb anschließende Wohnung. Hier findet sich alles, was auch in herkömmlichen Gärten zu sehen ist: Obstbäume mit dazwischen gespannten Hängematten, Gartenbeete und Kaninchenställe, Zierrasen mit Wäschespinnen und Rasensprenger – im Sommer Gartenmöbel, Sonnenschirme und Planschbecken, im Winter Schneemänner und geschmückte Christbäume. Zusätzlich zu den Dachgärten weisen die Wohnungen auf der Ost- oder Westseite des Hauses noch Terrassen und Balkone auf. Es gibt niemanden aus der Baugruppe, der seine Wohnung in Guglmugl jemals gegen ein klassisches Eigenheim mit Garten tauschen würde.
Rund die Hälfte der Atriumhausanlagen steht in Matzingers Heimatregion Oberösterreich, die übrigen verteilen sich auf Wien, Niederösterreich, Salzburg und die Steiermark – sowie auf vier Standorte in Deutschland: 1985 bis 1986 entstanden zwei Häuser mit insgesamt 16 Wohnungen im Zentrum von Offenau am Neckar, für die der Architekt prompt den mit 100.000 D-Mark dotierten Karl-Kübel-Preis für herausragendes Engagement für die Belange von Eltern und Kindern erhielt. Fritz Matzinger spendete die Summe der Bauherrengemeinschaft, um das Projekt mit einer Photovoltaikanlage nachrüsten zu können. 1990 bis 1992 baute er mit einer Wohnungsbaugenossenschaft für 21 von ursprünglich
600 Interessenten zwei Atriumhäuser in Berlin-Neukölln (s. Seite 24), 1994 bis 1995 ein Haus mit elf Wohnungen in Mainz und 1998 bis 1999 ein Haus mit 18 Familien in Dresden-Coschütz.
600 Interessenten zwei Atriumhäuser in Berlin-Neukölln (s. Seite 24), 1994 bis 1995 ein Haus mit elf Wohnungen in Mainz und 1998 bis 1999 ein Haus mit 18 Familien in Dresden-Coschütz.
Offensichtlich erweist sich Fritz Matzingers Konzept als für jeden Standort geeignet – für Groß- und Kleinstädte ebenso wie für den suburbanen und ländlichen Raum. Während in zentralen Lagen vor allem die sozialen Aspekte seines Modells zum Tragen kommen, wird an der Peripherie auch die volkswirtschaftliche und ökologische Nachhaltigkeit seiner Häuser schlagend. Im Linzer Vorort Kirchberg-Thening steht unmittelbar neben seiner dreiteiligen Anlage aus dem Jahr 1985 eine klassische Einfamilienhaussiedlung. Matzinger benötigte für 24 Wohneinheiten etwa ein Drittel der Fläche, die gleich viele Einfamilienhäuser auf der anderen Straßenseite in Anspruch nehmen. Und während für die Verkehrserschließung der drei Atriumhäuser, ausgestattet mit einer zentralen Tiefgarage, lediglich vier Prozent des Bruttobaulands verbraucht wurden, gingen für die Straßen und Stellplätze bei den Eigenheimen mehr als zwanzig Prozent der Fläche verloren.
Hinwendung zum Bestand
Im Bemühen um weitgehende Ressourcenschonung befasst sich Fritz Matzinger in letzter Zeit intensiv damit, sein im Neubau vielfach erprobtes Wohnmodell in bestehende, ungenutzte Bausubstanz zu implantieren. Ein erstes Projekt soll noch in diesem Jahr fertig werden: In Garsten bei Steyr baut der Architekt gerade 20 Wohnungen in einen aufgelassenen bischöflichen Gutshof aus dem Jahr 1453 ein. Die denkmalgeschützten Teile des Gebäudes werden behutsam saniert und adaptiert, andere Bereiche hingegen lässt Matzinger abtragen und in Holzbauweise neu ergänzen. Der erst vor wenigen Jahrzehnten betonierte Kuhstall wiederum kann ganz pragmatisch als Garage umgenutzt werden. Rings um das Gehöft gibt es auf 8000 Quadratmetern Grünland genügend Raum für einen Spielplatz, einen Obst- und Bauerngarten sowie für den Wunsch der Baugruppe, Ziegen und Hühner zu halten. Das überdachbare Atrium im Inneren hingegen findet problemlos im 30 mal 15 Meter großen Hof des für Oberösterreich typischen „Vierkanters“ Platz. Hier wird es eine gemeinschaftliche Küche, ein Café, einen zwei Meter breiten und zwanzig Meter langen Schwimmkanal sowie den üblichen Wintergarten geben. Und, wer weiß, vielleicht ist am Ende sogar noch Platz für einen Mangrovenbaum.
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