Bauwelt

Ensemble aus Einzelteilen

Text: Floridi, Giancarlo, Mailand

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Ensemble aus Einzelteilen

Text: Floridi, Giancarlo, Mailand

Das Gebäude in der Viale Sturzo in Mailand ist ein Bürokomplex mit einem Investor, der an der finanziellen Entwicklung des Projekts interessiert ist, und mit Mietern, die an der Lage und der Flexibilität eines typischen Grundriss-Layouts interessiert sind. Das Projekt erfüllt nicht nur diese funktionalen Bedürfnisse, sondern wirft neben den kommerziellen Anforderungen auch einige unerwartete Fragen auf, die sich auf die städtebauliche Form, die Beziehung zum Charakter der Stadt, die mögliche Öffnung zur Umgebung und die physische Kohärenz des Objekts beziehen. Dieses Streben nach Harmonie mit den anderen Elementen der materiellen und immate­riellen Kultur der Stadt ist typisch für zahlreiche Projekte, die während des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg darauf abzielten, pragmatische Probleme zu lösen, wie den Bau von Häusern zum Verkauf oder zur Vermietung und von Büros für anonyme Unternehmen, zusammen mit der Notwendigkeit, Stadtviertel zu vervollständigen, Beziehungen zu physisch benachbarten Gebäuden herzustellen oder Geschichten innerhalb der langen Gesamtperspektive der Stadt neu zu verknüpfen - bis hin zu dem Punkt, an dem nicht mehr die internen Funktionen zum Ausdruck kommen, sondern sich die Architektur auf die expressive Dimension der Stadt und die Beziehungen zwischen ihren Teilen konzentriert. Ist es möglich, die Stadt durch ein einziges Projekt zu definieren? Ist es möglich, eine öffentliche Dimension im Projektergebnis eines privaten Gebäudes für eine private Nutzung zu erhalten? Ist es möglich, eine sanfte Urbanität auch mit pragmatischen und nach innen gerichteten Lösungen zu schaffen? Das sind die Fragen, die uns das heutige Leben immer wieder stellt, und dies in zunehmendem Maße angesichts der neoliberalen Tendenzen in der Stadtplanung, wo die öffentlichen Ausgaben nicht mehr für öffentliche Gebäude bestimmt sind, die direkt den kollektiven Charakter zum Ausdruck bringen, sondern fast nur noch private Vorhaben mit ausschließlich finanziellen Zielen umfassen.
Das Bewusstsein, wie die Stadt individuelle Schicksale überdauert, scheint heute der einzige Gedanke zu sein, der eine Ethik des Widerstands gegen den Konsum der wechselnden Bilder begründen kann, die die Architektur heute in die Dimension der reinen Kommunikation projiziert haben. In der lateinischen Sprache ist das Wort Urbanität gleichbedeutend mit Bildung und guten Manieren. Zusammen leben und am Aufbau einer Stadt arbeiten bedeutet, die Grenzen der individuellen Macht zu akzeptieren, die durch Gewohnheiten, Lebensstile und jenes dichte Netz ungeschriebener Regeln gesetzt werden, die das Zusammenleben ermöglichen. Die Moderne propagierte, die Trägheit der Form auf Null zu reduzieren, was auch von pragmatischen Erfordernissen geleitet war. Aber das Gebäude bleibt bestehen und wird mit unterschiedlichen Wünschen konfrontiert, mit seinem manchmal autonomen Charakter gegenüber dem Programm, seinen Resonanzen, seiner manchmal sentimentalen Natur. Gebäude, die im Laufe der Zeit eine gewisse Beständigkeit und Autonomie erlangen, werden zu einer Episode im Leben der Stadt, zu einem Teil einer Welt, die wir nicht kennen. Eine ernsthafte kulturelle Haltung kann jedoch kollektive Elemente einführen und die Stadt sanft davon lösen, nur pragmatischen Bedürfnissen zu folgen. Die Mailänder Bauten teilen diese Voraussetzung, die Stadt als eine Ansammlung und Schichtung von Elementen zu sehen, die nebeneinander stehen und nacheinander in Zeit und Raum Bedeutung erlangen, um ein Ganzes zu bilden, und nicht unabhängig voneinander existieren. Die Konstruktion vor dem Hintergrund der bestehenden Stadt und die relative Präsenz des einzelnen Gebäudes ist das gemeinsame Thema der Cascami Seta von Portaluppi, des Galbani-Turms von Soncini, der schwarzen Blöcke von Caccia Dominioni am Corso Europa, der kom-binierten Wohn- und Bürogebäude von Asnago und Vender usw. Die durch Volumen und Fassaden geschaffenen Strukturen sollen Verbindungen zur Umgebung aufzeigen, die auf physischer oder kultureller Ebene fast verloren gegangen sind: Fußwege, Gebäudeansichten, Materialien, Schatten, Proportionen, Höhen. Jeder neue Entwurf wird mit einem Gebiet konfrontiert, das so komplex ist, dass es fast unmöglich ist, ein Gebäude als autonomes Objekt zu entwerfen. Mailand bietet eine anomale Modernität, die sich durch die Fähigkeit zur Innovation bei gleichzeitiger Interpretation früherer Schichten auszeichnet. Es handelt sich nicht um nachträgliche formale Anpassungen des Neuen an das Bestehende, sondern um Transplantationen, die in der Lage sind, in geschichteten urbanen Kontexten wirksam und sensibel zu agieren. Der Ort ist kein starrer Entwurf, sondern ein lebendiges Material, das sich in eine neue Konfiguration verwandeln kann. Diese Gruppe von Mailänder Architekten näherte sich den einzelnen Projekten mit einer ausgeklügelten Dosis Realismus, indem sie die Wünsche der Auftraggeber nutzte und lenkte, um die Definition einer öffentlichen Stadt auch durch private Gebäude zu erreichen. Das Projekt leistet mehr als gefordert: Wünsche dürfen in das Gebäude eindringen, aber nur, wenn sie die logische Raumorganisation nicht stören.
Der bewusste Generalismus dieser Architektengeneration ist typisch für den intellektuellen Architekten. Sie entwerfen ohne Rücksicht auf die Größe Bürotürme, aber auch Türgriffe, kleine Häuser und Pavillons, wobei sie sich der unterschiedlichen Maßstäbe der Stadt bewusst sind und die Architektur der Stadt immer als ein kompliziertes Geflecht von Ebenen betrachten. Die verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten sind nicht das Ergebnis eines Zufalls, sondern einer präzisen Entscheidung, die eine besondere Verpflichtung gegenüber der Stadt und ihrer Architektur berücksichtigt. Jede Form als städtische Form, die somit durch die Zeit geformt oder als solche konzipiert wurde, kann nur ein Teil sein, dessen Aufgabe es ist, seine Einzigkeit durch Durchmischung zu überwinden, wobei das Ergebnis jedoch nicht eine Bereicherung durch Hinzufügung ist. Alle Gebäude versuchen durch eine Reihe versteckter Absichten, sich gegenüber der Stadt großzügig zu zeigen, indem sie unerwartete Grundrisse schaffen, die den öffentlichen Raum unter Arkaden, Überhängen und in Galerien erweitern, Schutz bieten und versuchen, durch gezielte Eingriffe latente Verbindungen auf dem Gelände aufzudecken. Eine Reihe sanfter Gesten von Volumen verbinden und reparieren, was, wenn auch unbeabsichtigt, zur Präexistenz geworden ist. Wir könnten die Gesamtheit der Eingriffe als einen Akt der Veredelung bezeichnen, bei dem durch einzelne Episoden innerhalb etablierter Formen und Methoden der dunkelsten Professionalität unterschiedliche und neue Perspektiven der Arbeit und Bedeutung eröffnet werden. Die Gebäude schweben zwischen der pragmatischen Notwendigkeit, konsolidierte Programme wie Mietwohnungen und Büros umzusetzen, und der Fähigkeit, Ausdruck und Reichtum aus der Nachbarschaft oder innerhalb der Referenzen anderer Gebäude einzuführen, die zwar nicht physisch nahe beieinander liegen, aber klare Verweise auf die-se Haltung darstellen. Wie bei einem „Cadavre-Esquis“-Spiel in der Stadt kann im Laufe der Zeit ein kohärentes System geschaffen werden, da es dieselben Regeln und Interessen anwendet und somit eine erkennbare Figur umreißt. Der Aufbau des Ensembles aus Einzelteilen ist eine kom-plizierte Aufgabe, da es Lesefähigkeiten, die Akzeptanz der Grenzen des Eingriffs, aber auch die Antizipation seiner allgemeinen Resonanz sowie die Anpassung an den Kontext und seine Abweichungen erfordert.
Übersetzung aus dem Englischen: Beate Staib
Fakten
Architekten Onesitestudio, Mailand
aus Bauwelt 24.2024
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