Bauwelt

Kolonie im Wandel, Stadt im Umbruch

Das unvermeidliche Schwert der Sanierung hängt über der Hindu Colony im Matunga-Dadar-Viertel, wo sich einst ein beeindruckendes Ensemble von Art-Déco-Gebäuden befand. Heute gibt es nur mehr Reste davon. Wie in anderen Metropolen fallen auch in Mumbai die traditionellen Viertel der Mittel- und Arbeiterklasse der Gentrifizierung zum Opfer.

Text: Fernandez, Fiona

Bild 1 von 3
  • Bilderliste
    • Social Media Items Social Media Items

    Die meisten Altbauten der Hindu Colony sind nicht denkmalgeschützt. Immobilienentwickler interessieren sich vor allem für die wertvollen Grundstücke in erstklassiger Lage.
    Foto: Sergey Ponomarev

    • Social Media Items Social Media Items
    Die meisten Altbauten der Hindu Colony sind nicht denkmalgeschützt. Immobilienentwickler interessieren sich vor allem für die wertvollen Grundstücke in erstklassiger Lage.

    Foto: Sergey Ponomarev

Kolonie im Wandel, Stadt im Umbruch

Das unvermeidliche Schwert der Sanierung hängt über der Hindu Colony im Matunga-Dadar-Viertel, wo sich einst ein beeindruckendes Ensemble von Art-Déco-Gebäuden befand. Heute gibt es nur mehr Reste davon. Wie in anderen Metropolen fallen auch in Mumbai die traditionellen Viertel der Mittel- und Arbeiterklasse der Gentrifizierung zum Opfer.

Text: Fernandez, Fiona

545, Bhoj Mahal, Tejookaya Park, Matunga. Die ikonische Uhr am Eingang des Art-Déco-Gebäudes ist eine der markantesten Besonderheiten, die Passanten entlang der Dr. Babasaheb Ambedkar Road entdecken können. Früher hieß sie Vincent Road, und ihre Bebauung repräsentierte auf beiden Straßenseiten das Arbeiter- und Mittelklasse-Herz der Stadt Bombay (wie Mumbai bis November 1995 hieß). Heute tut sie das nicht mehr. Dem auffälligen Gebäude gegenüber – die Aussicht wird durch eine Hochstraße verstellt – steht einer jener Wolkenkratzer, die in der Sprache der Mumbaier Wohnungseigentümer gemeinhin als „Turm“ bezeichnet werden. Der 19-Geschosser, in dem jede Wohnung mehr als 40 Millionen Rupien (etwa 420.000 Euro) kostet, befindet sich interessanterweise im Eigentum derselben Firma, die einst auch das Art-Déco-Haus gebaut hat.
Diese beiden gegensätzlichen Standorte stehen sinnbildlich für das sich rasch veränderndes Ökosystem in diesem einst malerischen Ort, der als Hindu Colony bezeichnet wird. Die Kolonie ist Teil eines größeren Stadtgebiets, das zu den ersten geplanten Vorstädten gehörte, die außerhalb der küstennahen Inseln entstanden, die den Kern Mumbais bilden.
Ein paar Schritte weiter baut eines der größten indischen Handelshäuser und Eigentümer unzähliger Grundstücke in Mumbai ebenfalls einen Luxusturm. Jede Wohnung dort kostet mehr als 50 Millionen Rupien (etwa 530.000 Euro) und verfügt über eine Reihe von luxuriösen Annehmlichkeiten, wie das Bauschild verspricht. Ringsum prägen ähnliche Schilder das Straßenbild. Eingeklemmt zwischen diesen Hochhäusern stehen zwei- und dreigeschossige Gebäude, die in den 1930er und 40er Jahren errichtet wurden. Diese Wohnungen im Art-déco-Stil waren einst die Norm und nicht die Ausnahme in diesem Stadtteil.
Architektur des Wandels
Das Haus Shree Krishna Bhavan befindet sich in der Sir Bhalchandra Road in. Dieses Art-Déco-Juwel wurde von Shankarrao H. Parelkar entworfen, der gerade und geschwungene Linien verwendete, um die räumliche Geometrie dieses Baustils zu dekonstruieren. Der Schriftzug ist in der auffälligen Devanagari-Schrift gehalten, dem Alphabet für Sanskrit, Hindi und andere indische Sprachen, während jeder auskragende Balkon mit einem kunstvollen Gitter versehen ist. Ein berühmter Künstler der Bombay School of Art, K. B. Chudekar, gab dieses zweistöckige Gebäude in Auftrag. Es ist ein weniger bekanntes Werk von Parelkar, einem Mitglied des Royal Institute of British Architects, der viele weitere Gebäude in Matunga und Dadar entworfen hat; beide Stadtteile bildeten zu ihrer Entstehungszeit den Kern des bürgerlichen Bombay.
Shree Krishna Bhavan ist nach wie vor eines der besser erhaltenen Gebäude. Hier scheinen die Bewohner und der Vermieter gemeinsam in die behutsame Restaurierung des Gebäudes investiert zu haben. Vermutlich auch, um es vor den begehrlichen Blicken der Projektentwickler zu schützen, die immer darauf aus sind, geeignete Grundstücke in dieser erstklassigen Lage zu ergattern. Das nahe gelegene, gut erhaltene Gebäude Kamla Kunj ist ein weiteres prägnantes Eckgebäude. Das 1934 errichtete Haus mit seiner leuchtend blauen Fassade, den geometrischen Mustern und den luftigen Balkonen ist eine lebendige Erinnerung an die Art-Déco-Prägung, die einst die Identität dieser Gegend ausmachte. Leider sind diese beiden Gebäude nur matte Hoffnungsschimmer.
Vom Wohnort der Mittelschicht zum Investitionsobjekt der Oberschicht
Die Hindu Colony und ihr Gegenstück auf der gegenüberliegenden Seite der Dr. Ambedkar Road, die Parsi Colony, waren Teil des Dadar-Matunga Estate Scheme V, das in den 1920er Jahren vom Bombay Improvement Trust, der wichtigsten Stadtentwicklungsbehörde der damaligen Zeit, entwickelt wurde. Die Regierung Bombays hatte diese Treuhandgesellschaft gegründet, um überbevölkerte Gebiete der Stadt zu entlasten und neue Standorte für erschwinglichen Wohnraum zu finden.
Kamu Iyer, angesehener Architekt aus Mumbai und ehemaliger Bewohner der Hindu Colony, schreibt in seinem Buch „Boombay: From Precincts to Sprawl“, dass die Mieten in der Hindu Colony „erschwinglich waren, und die meisten Mieter der Mittelschicht entstammten, was eine gewisse Homogenität in der Nachbarschaft mit sich brachte“.
Es ist nach 10 Uhr morgens. Inzwischen stören die ohrenbetäubenden Geräusche mehrerer JCB-Baufahrzeuge aus der Hindu Colony die Ruhe; mit Sand gefüllte Lastwagen rasen vorbei; Schutthaufen versperren die meisten der schattigen, aber kaputten Bürgersteige. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Anwohner von ihren Balkonen aus mit bekannten Gesichtern ins Gespräch kommen konnten, die auf den Gehwegen für ein gupshup, ein Schwätzchen, stehen blieben. Heute fahren Maybachs, Peugeots und Volkswagen durch die Straßen.
Soziokultureller Wandel
Die Sorge ist, dass mit der Sanierung der Art-Déco-Gebäude ihre ursprüng-liche Architektur verloren geht. Schließlich dienen diese Orte nicht nur als bauliche Markierungen, sondern sind auch Träger von Erinnerungen und damit von Menschen, die hier seit langem leben. Es gibt keine Garantie dafür, dass die ursprünglichen Bewohner nach der Sanierung überhaupt in ihre renovierten Häuser zurückkehren werden. Daher werden die kommenden Generationen, die hier leben, vielleicht nie etwas über die Geschichte des Ortes erfahren.
Gegenüber der Hindu Colony kündigen riesige Schilder neue, glitzernde Türme an und versperren den Blick auf ein dem Abriss geweihtes Art-Déco-Gebäude. Die meisten dieser Häuser stehen nicht unter Denkmalschutz und befinden sich im Eigentum von Investoren. Dies ist eine enttäuschende Realität, wenn man bedenkt, dass Art Déco nach wie vor ein viel diskutierter und gut dokumentierter Architekturstil in der Stadt ist.
Mit der kontinuierlichen Zerstörung von Matungas Geschichte und Ursprüngen werden künftige Forscher keine sichtbaren Zeugnisse mehr haben, anhand derer sie das Viertel untersuchen können. Neben dem tatsächlichen materiellen Verlust werden die Abrisse langfristig zu einem Verlust von lokaler Geschichte führen. Mit der allmählichen Verlagerung der ursprünglichen Wohnbevölkerung verändert sich auch die soziokul-turelle Landschaft der Hindu Colony und ihrer Umgebung. Bestand sie früher mehrheitlich aus Tamilen, Maharashtrianern und Gujaratis, wird sie heute hauptsächlich durch Neureiche aus ganz Mumbai und weit darüber hinaus geprägt. Diese Verschiebung hat sich nicht zuletzt auch auf die Besucherzahlen der beliebten Gemüsemärkte und der Lebensmittelgeschäfte ausgewirkt. Sogar dem einst geschäftigen Blumenmarkt, kaum hundert Meter von der Hindu Colony entfernt, droht die endgültige Schließung, nachdem kürzlich auf Veranlassung der Behörden seine Stände dem Erdboden gleichgemacht wurden.
Gentrifizierung, überall
Die Hindu Colony war einst ein Vorort für die Mittel- und Arbeiterklasse, der bezahlbaren Wohnraum bieten und in den 1930er und 1940er Jahren den Ansprüchen einer sich entwickelnden Stadt gerecht werden sollte. Heute ist sie eine Anomalie. Sie steht für eine Art des Wandels, der viele Straßenzüge Mumbais und die einzigartige architektonische Vielfalt, mit der sich die Stadt nach der Unabhängigkeit rühmte, vollkommen verändert. Die „modernen“ Beton- und Glasbauten mit einer schwachen Design­ethik haben zu einer zunehmenden Gentrifizierung geführt, die die Stadt ihres lebendigen Charakters, ihrer Ästhetik sowie ihres Respekts für lo-kale Materialien und die Umwelt beraubt – alles Dinge, die früher fester Bestandteil einer Art-Déco-Wohnung waren.
Der Wandel in Vororten wie Matunga ist auch insofern von Bedeutung, als er dazu geführt hat, dass die gemeinschaftsorientierten Viertel, die diese Stadtteile ausmachten, verschwunden sind. Mumbai wird oft als „Schmelztiegel“ bezeichnet, weil es eine reiche Mischung aus einheimischer und zugewanderter Bevölkerung aufweist. Das heutige Matunga scheint sich in einer Übergangsphase zu befinden, in der es nur wenige oder gar keine Schutzengel gibt, die diese rasch fortschreitenden Veränderungen aufhalten könnten.
Die tickende Uhr am Eingang des Tejookaya Parks erinnert unheilvoll daran, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sich diese einst idyllische Wohnkolonie in eine weitere charakterlose Bausünde verwandelt hat. Mit ihrem Verschwinden wird sich die Stadt einmal mehr von einem reichen Kapitel ihrer Geschichte und ihres Erbes verabschieden.
Fiona Fernandez ist Schriftstellerin, Redakteurin, Zeitreisende und Liebhaberin von allem, was mit Mumbai zu tun hat. Sie arbeitet als Mitherausgeberin bei der Tageszeitung Mid-day, Mumbai, und unterstützt aktiv die Bemühungen zur Erhaltung des kulturellen Erbes der Stadt.

0 Kommentare


loading
x
loading

7.2025

Das aktuelle Heft

Bauwelt Newsletter

Das Wichtigste der Woche. Dazu: aktuelle Jobangebote, Auslobungen und Termine. Immer freitags – kostenlos und jederzeit wieder kündbar.