Architektur des 20. Jahrhunderts in Estland
Ein Besuch im Estnischen Architekturmuseum in Tallinn
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
Architektur des 20. Jahrhunderts in Estland
Ein Besuch im Estnischen Architekturmuseum in Tallinn
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
Die Altstadt von Tallinn ist ein Schmuckkästlein. Gewiss, es gab erhebliche Bombenschäden im Zweiten Weltkrieg seitlich der Nikolaikirche, die ebenfalls stark beschädigt wurde. Dort wurde die Altstadt nicht wiederaufgebaut, sondern in der Zeit der Estnischen Sowjetrepublik durch allerdings maßstäblich zurückhaltende Bauten ersetzt und zu Teilen auch gänzlich frei gelassen. Aber ansonsten ist die Stadt, das einstige, von deutschbaltischen Handelsherren dominierte Reval, ein aufgeschlagenes Geschichtsbuch der Jahrhunderte seit dem späten Mittelalter: eine Hansestadt mit Kirchen, Bürgerhäusern, Rathaus, mit Stadtmauern und -toren.
Das 20. Jahrhundert fand außerhalb der Mauern statt. Darüber informiert das Estnische Architekturmuseum, das seinerseits in einem stattlichen Lagerhaus des Rotermann-Areals residiert, einem aufgelassenen Industrie- und Lagergelände. Man kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus: Estland ist ein kleines Land mit heute gerade einmal 1,3 Millionen Einwohnern, von denen ein Drittel in der Hauptstadt Tallinn zu Hause ist. Und doch zeigt die Dauerausstellung „Raum in Bewegung. Ein Jahrhundert estnischer Architektur“ einen solchen Reichtum an Stilen, Versuchen, bemerkenswerten Objekten. Die Schau ist verzahnt mit der Sonderausstellung im Obergeschoss, „Kopli Sonata. Die Russo-Baltische Werft“, die ein gleichfalls aufgelassenes, riesiges Industrierevier auf der weit in den Finnischen Meerbusen vorspringenden Halbinsel Kopli zum Thema hat.
Das Verwaltungsgebäude des Werftunternehmens findet sich in beiden Ausstellungen: ein mächtiger Bau von 1913, gekleidet in rustizierten Naturstein, ein „Fabrikschloss“ mit hoch aufragendem, mittigen Uhrturm; das alles in jenem Stil oder besser Stilwollen, das in den nordeuropäischen Ländern für den Aufbruch in eine nationale Moderne nach 1900 steht. Der Chefarchitekt des Areals stammte aus dem nicht allzu weit entfernten St. Petersburg, Alexander Dmitrijew, Mitglied der Kaiserlichen Akademie. Ganz so selbstbewusst wie in Finnland – mit dem Estland das Schicksal einer einigermaßen autonomen Provinz des Russischen Zarenreichs teilte – hat sich dieser Nationalstil nicht ausbilden können. Und anders als Helsinki bot Tallinn wohl auch nicht die nötige Wirtschaftskraft, ganze Stadtviertel in dieser Weise neu zu bebauen.
Die zwei Jahrzehnte der Unabhängigkeit zwischen 1918 und der Besetzung durch die Sowjetunion 1940 infolge des Hitler-Stalin-Pakts sind die fruchtbarsten der estnischen Architektur. Man muss im Stadtbild von Tallinn zweimal hinschauen, um die Bauten der prosperierenden 30er Jahre von denen der nachstalinistischen Sowjetzeit zu unterscheiden. Man darf von einer „anderen“, einer „konservativen“ Moderne sprechen. Ältere Schwarz-Weiß-Fotografien lassen erahnen, dass die Farbgebung der Putzfassaden und der stehenden Fenster ausschlaggebend gewesen sein muss – im Graubraun der (zweiten) Nachkriegszeit verschwimmt das leicht zu jener eigentümlichen Tristesse, die geradezu körperlich spürt, wer Osteuropa noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs bereist hat. Heute zum Glück wieder dezent farbig gefasst ist das Kunsthaus am Freiheitsplatz von Anton Soans und Edgar Johann Kuusik von 1934, während die zeitgleichen Geschäftshäuser an der belebten Pärnustraße von den lauten Neubauten der postsowjetischen Aufbruchszeit optisch bedrängt werden. Eindrucksvoll ist die unverändert erhaltene Elfriede-Lender-Mädchenschule von 1935 nach Entwurf von Herbert Johanson, dem führenden Architekten der 30er Jahre, der hier eine Tessenow’sche Klarheit in Organisation und Fassaden der additiven kubischen Baukörper erreicht.
Zu dieser Zeit war das Werftgelände in Kopli, zu dem ausgedehnte Wohnsiedlungen in Zeilenbauweise gehören, in Größe und Ausstattung abgestuft nach Arbeitern und Ingenieuren, bereits zum Problemfall geworden – durch die Unabhängigkeit Estlands fehlte das gewaltige Hinterland, das zuvor Tallinns Stellung als vorgeschobene Hafenstadt und Stützpunkt in der baltischen Ostsee ermöglicht hatte. Im Grunde seit dieser Zeit wird mit dem Gelände, das schon damals seine riesigen Docks an die Schrottpresse verlor, experimentiert. Das „Fabrikschloss“ beherbergt die Maritime Akademie, die Direktorenhäuser wurden der Professorenschaft zur Verfügung gestellt. Die Sowjetzeit brachte neue, andere Fabrikanlagen und die gezielte Ansiedlung ethnischer Russen, die bis heute vorwiegend in den „Chruschtschowkas“ wohnen, den mehrstöckigen Zeilenbauten mit flachen Satteldächern der 60er Jahre, die die Halbinsel Kopli in ihren stadtnäheren Teilen bestimmen.
In den 90er Jahren muss es erheblichen Vandalismus insbesondere an verlassenen Holzhäusern gegeben haben, und Brandruinen sind auch heute noch zu sehen, obwohl die aus russischer Volkstradition stammenden Holzhäuser generell eine Renaissance als Wohnform erleben. Kopli befindet sich in einer allmählichen Transformationsphase mit steigendem Preisniveau, auch der Mieten. Neben ansehnlichen Konversionen wie etwa des Rotermann-Quartiers, zu dem das Gebäude des Architekturmuseums zählt, fällt die Ratlosigkeit ins Auge, die in Kopli herrscht. Doch da geht es eben nicht nur um ein Problem von Stadtplanung und Architektur, sondern um das tiefgreifende Problem der estnischen Gesellschaft, wie sie mit dem Erbe der Sowjetzeit umgehen soll. Mit den Menschen, die damals hierherkamen und für die Kopli, Tallinn und Estland Heimat geworden ist.
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