Legal, Illegal, Extralegal
Dachaufstockungen im ehemaligen Jugoslawien – Fotos von Gregor Theune in einer Hamburger Ausstellung
Text: Scheffler, Tanja, Dresden
Legal, Illegal, Extralegal
Dachaufstockungen im ehemaligen Jugoslawien – Fotos von Gregor Theune in einer Hamburger Ausstellung
Text: Scheffler, Tanja, Dresden
In den Ländern des ehemaligen Jugoslawien kann jeder architekturinteressierte Westeuropäer eine wunderbare Lektion über die marktinduzierte Eigendynamik informeller Stadtentwicklungsprozesse lernen. Dort werden ganze Quartiere in Eigenregie hochgezogen, und auch die meisten Um-, An- und Erweiterungsbauten, die jenseits staatlicher Reglementierung entstehen, werden stillschweigend hingenommen (Bauwelt 11.2012).
Der Kölner Architekturfotograf Gregor Theune hat mit seiner Fotoserie „Nadogradnje“ das weit verbreitete Phänomen nachträglicher Dachaufbauten detailscharf dokumentiert. 29 seiner Arbeiten, die er zwischen 2010 und 2014 mit analoger Großformattechnik in Belgrad (Serbien), Zagreb (Kroatien), Priština (Kosovo), Sarajewo (Bosnien-Herzegowina), Skopje und Tetevo (Mazedonien) aufgenommenen hat, sind zurzeit im AIT-Architektursalon in Hamburg zu sehen. Bei einigen der allesamt aus der Ferne abgelichteten Motive muss man sehr genau hinschauen, um die zum Teil skurrilen Aufstockungen zu entdecken. Theune bedient nicht die klassischen Sehgewohnheiten der frontalen Architekturfotografie. Ihn scheinen eher die Zusammenhänge zwischen dem Zustand der Bauten, ihrem Umfeld und den gesellschaftlichen Entwicklungen zu interessieren. So werden bei ihm dann selbst die mit einer wilden Pultdach-Agglomeration überzogenen Wohntürme von Karpoš (Skopje) zur Hintergrund-Kulisse eines einfachen Fußballplatzes in der Peripherie.
Informelle Baupraktiken waren bereits im sozialistischen Jugoslawien weit verbreitet. Weil der Staat nicht in der Lage war, den in der Verfassung verankerten Anspruch auf Wohnraum zu erfüllen, wurden „Schwarzbauten“ von Anfang an geduldet. Später erlaubte man Privatleuten informelle Aufstockungen von staatlichen Wohngebäuden, wenn sie dafür das undichte Dach reparierten. Der landesweite Wohnungsbestand wurde in den frühen neunziger Jahren privatisiert, während des durch Kriege und Flüchtlingsströme geprägten Zerfalls Jugoslawiens. Völlig legal zu bauen war damals zwar möglich, bedeutete aber, sich auf einen Ämter-Marathon mit ungewissem Ausgang einzulassen. Aufgrund der unklaren Rückübertragung der Flächen, die nach dem Zweiten Weltkrieg enteignet worden waren, war auch kaum reguläres Bauland erhältlich. So avancierten die Dächer der Stadtzentren zum Eldorado des experimentellen Bauens ohne Genehmigung.
Denn dort waren – neben der begehrten Penthouse-Lage und der städtischen Infrastruktur – auch die notwenigen Anschlussleitungen bereits vorhanden. Im Zuge verschiedener neuer Gesetze, die bei einer grundlegenden Sanierung von Gebäuden eine großzügige Aufstockung erlauben oder aber einzelne informelle Bauten im Nachhinein legalisierten, versuchten professionelle Projektentwickler diese Praxis auszubauen. Das reichte bis hin zu mehrgeschossigen Mega-Strukturen, die das komplette Gebäude überzogen. Solche Gebilde werden meist als „Nadogradnje“ bezeichnet, dem im serbokroatischen Sprachraum üblichen Begriff für ein technisches, wertsteigerndes „Upgrade“. Theunes Fotos zeigen eine große Bandbreite mehr oder weniger feinfühliger Projekte – von der kaum erkennbaren neuen Dachstruktur in der Belgrader Altstadt bis zum wilden Sammelsurium des lokalen Baumarkt-Sortiments. Jedoch verrät der Fotograf dem Betrachter nicht, welcher Aufbau nun legal, illegal oder „extralegal“ (außerhalb des offiziellen Prozedere im Kontext der „Schattenwirtschaft“) errichtet wurde.
Wer mehr dazu wissen möchte, dem sei der die Ausstellung ergänzende englischsprachige Sammelband empfohlen, in dem etliche für ihre fundierten Recherchen und Analysen bekannte Architekten und Bauhistoriker wie Vladmir Kulić und Dubravka Sekulić das Phänomen der „Nadogradnje“ näher beleuchten. Die Publikation wurde 2016 als eines der zehn besten Architekturbücher des Jahres mit dem DAM Architectural Book Award ausgezeichnet. Tanja Scheffler
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