Bauwelt

Maßstabssprünge

Text: Stumm, Alexander, Berlin; Klingbeil, Kirsten, Berlin

Maßstabssprünge

Text: Stumm, Alexander, Berlin; Klingbeil, Kirsten, Berlin

Lehm gilt ob seiner Ökobilanz, der fast energieneu­tralen Produktion und der reichlichen Verfügbarkeit als Low Tech-Lösungsansatz für die Bauwende. Allerdings sprach man schon in den 1980er Jahren von einer „Lehmbaurenaissance“. Damals schuf der Pionier Gernot Minke in Kassel Experimentalbauten und initiierte die erste Ökosiedlung in Deutschland. Im Pariser Centre Pompidou und im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt war 1982 die große, von Jean Dethier kuratierte Ausstellung „Lehmarchitektur – Die Zukunft einer vergessenen Bautradition“ zu sehen. Bei Lyon realisierten Jourda & Perraudin bis 1985 eine Sozialwohnsiedlung in Stampflehm. Doch kurz danach war von Lehm kaum mehr was zu hören. Was damals nicht gelang, war der Maßstabssprung hin zur industriellen Produktion und die Etablierung als alltäglichen Baustoff. Diese Ausgabe widmet sich Akteuren, die genau das ändern wollen: BC Materials produzieren Lehm aus dem Baustellenaushub der Brüsse­ler U-Bahn – und sind nun auf Kooperation mit den großen Herstellern aus. Martin Rauch setzt mit Lehm Ton Erde Baukunst in Schlins auf die Vorfabri­kation von bis zu vier Tonnen schweren Stampflehmgroßelementen, die quasi am Fließband entstehen. Mit Gramazio Kohler und Mario Cucinella Archi­tects wagt sich die technikaffine Zunft an den althergebrachten Baustoff und stellt Prototypen mit Robotern und 3D-Druckern her. Neben technischer Innovation bedarf es vor allem Rechtssicherheit. Christof Ziegert gibt einen Ausblick, wie mit neuen Normen ab Frühjahr 2023 tragendes Lehmsteinmauerwerk bis einschließlich Gebäudeklasse 4 möglich wird. Die Zukunft des Lehmbaus sah lange nicht so gut aus.
Die trauen sich was
Anfang des Jahres setzten wir auf der Bauwelt 5.2022 den Titel: Wohnen! Wir zeigten vier Projekte mit insgesamt 158 Wohnungen. Jetzt haben wir wieder gezählt: Mit nur zwei Wohnbebauungen sind 640 Wohnungen entstanden – und zwar nicht in irgendeiner Megacity, wo das wenig überraschen würde, sondern in Amsterdam. Zwischen den Projekten vom Jahresanfang und den Zweien in diesem Heft liegt ein ordentlicher Maßstabsprung. Beide stammen von Architekturbüros, die erprobt sind mit großformatigen Vielgeschossern und einem geschickten Umgang mit komplexen Strukturen: MVRDV und Barcode Architects zusammen mit BIG. Natürlich werfen die Projekte Fragen der Nachhaltigkeit auf, der sozialen Mischung, der realis­tischen Bereicherung für ihr Umfeld. Doch man schaut auch ein bisschen fasziniert ins Nachbarland, wo Planer mutig und „Out of the Box“-Ideen probieren und nicht einfach alles in viereckige Kisten stecken.

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