Poesie der Zeit
Im Laufe von 57 Jahren fotografierte Michael Ruetz 360 Standorten in Europa – davon rund 180 in und um Berlin, parallel in Schwarzweiß und in Farbe. Zeitgeschichte auf rein visuelle Art
Text: Hamm, Oliver G., Berlin
Poesie der Zeit
Im Laufe von 57 Jahren fotografierte Michael Ruetz 360 Standorten in Europa – davon rund 180 in und um Berlin, parallel in Schwarzweiß und in Farbe. Zeitgeschichte auf rein visuelle Art
Text: Hamm, Oliver G., Berlin
Ab 1966 arbeitete der Fotograf Michael Ruetz an seiner Serie Timescapes (was sich mit Zeitlandschaften übersetzen lässt). Dieses vielschichtige Werk dokumentiert nicht nur den allmählichen Wandel, sondern auch die teilweise gewaltigen Umbrüche von (Stadt-)Landschaften. Die Ausstellung in der Akademie der Künste am Pariser Platz fokussiert vor allem auf die Berliner Timescapes, welche die tiefgreifenden stadträumlichen Metamorphosen insbesondere ab 1990 etwa am Schlossplatz, am Pariser Platz und Potsdamer Platz veranschaulichen. Im Vergleich der jeweils ersten und der letzten Aufnahme ist mancher Ort kaum wiederzuerkennen, etwa das Alexanderufer, Ecke Kapelle-Ufer: 1991/92 noch eine weit offene – 1995 dann üppig begrünte – Fläche gegenüber dem Reichstagsgebäude, ab 2002 dann an beiden Spreeufern dicht bebaut. An einem anderen Ort scheint dagegen die Zeit stehen geblieben zu sein: Die Häuser an der Kopenhagener Straße – von der Dänenstraße jenseits des S-Bahngrabens aus betrachtet – mit ihren abblätternden Brandwänden sehen 2016 noch genauso aus wie 1990, sie sind lediglich mit mehr Graffiti überzogen.
So beeindruckend die einzelnen fast ausschließlich farbigen Sequenzen auch sind: Am bildmächtigsten erscheinen die schwarz-weißen Ausnahmen von der Regel, bei denen keine farblich besonders auffälligen Elemente die Bildkomposition beeinträchtigen und bei denen auch mal eine längere Bildfolge oder ein einfacher Vorher-Nachher-Vergleich den Blick schärfen. Gleich zum Auftakt des zentralen Ausstellungsraums wird ein Bildpaar vom Gendarmenmarkt in großformatigen Schwarz-weiß-Abzügen präsentiert: einmal die beiden kriegsversehrten Dome auf einer wildnisartig überformten Platzfläche am 11.4. 1966 und dann, exakt 34 Jahre später aus gleicher Perspektive aufgenommen, ein postmoderner Nachwendebau, der gerade so eben noch einen Blickausschnitt auf einen der zwischenzeitlich sanierten Dome freigibt.
Gleich zwei Filme von Annett Ilijew dokumentieren, wie der Fotograf (*1940) auf eine wackelige Leiter oder eine Fensterbank steigt, um eine günstige Aufnahmeposition einzunehmen – und wie ihm seine Assistentin Astrid Köppe hilft, anhand akribisch angefertigter Projektblättern den exakt gleichen Aufnahmeort und die Blickachse wiederzufinden, die er schon bei viel früheren Aufnahmen mit oft völlig anderem räumlichem Kontext ausgewählt hatte. Einen Einblick in die Werkstatt des Fotografen gewährt der vorletzte Ausstellungsraum: Dort ist sein Kodachrome- und Negativarchiv mit Tagebüchern und Arbeitsprotokollen aufgebaut, in Lageplänen sind die Aufnahmeorte markiert und in einer Vitrine werden die Kameras präsentiert, mit denen Michael Ruetz gearbeitet hat, darunter je eine Linhof Technorama 612 und 617, mit denen er die meisten Panoramaaufnahmen gemacht hat, und eine Canon EOS 5D, mit der er seit 2005 digital fotografiert.
Der letzte Raum ist der „Absoluten Landschaft“(1989–2012) gewidmet, einem Landschaftspanorama in Süddeutschland, das sich durch die Überblendung von 122 (von insgesamt 2720) Aufnahmen aus allen Tages- und Jahreszeiten mit sehr unterschiedlichen Wetterbedingungen zu einem ungewöhnlich lebendigen Tableau entwickelt: Blitze zucken, Nebel wabern, düstere Wolken ziehen über die – eben nicht immer gleiche – Wiesenlandschaft vor einer Bergkulisse hinweg, vereinzelte Häuser verschwinden in den Schneemassen. Diese Landschaftspanoramen schlagen den Bogen zum ersten Ausstellungsraum, der beim Rückweg zwangsläufig noch einmal durchschritten werden muss; er ist „Albrechts Teerofen“ nahe dem ehemaligen Kontrollpunkt Dreilinden gewidmet, einer früheren Autobahnschneise, die sich die Natur zurückerobert hat. Michael Ruetz notierte dazu 1994: „Dieser ist immer noch einer der seltsamsten Orte von Berlin: die leere, überwachsene Autobahn, eingehüllt in den Lärm der unsichtbaren Autobahn im Off dahinter. Widersinnig und bizarr. Wunderbar und völlig ungereimt, ist nun mal Berlin.“
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