Bauwelt

Predictive Policing – auf Streife mit Big Data

Die Digitalisierung scheint den Traum eines jeden Gesetzeshüters wahr werden zu lassen: die Vorhersage von Verbrechen. In vielen Städten der USA setzt die Polizei bereits auf Computerprogramme, die die Wahrscheinlichkeit von Diebstahl, Einbruch oder sogar Mord auf 120 Meter genau prognostizieren. Auch deutsche Bundes­länder experimentieren mit solchen Datenanalyse-Systemen. Doch deren Objekti­vität ist fraglich

Text: Shapiro, Aaron, Pennsylvania

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    Der Anthropologe Jeffrey Brantingham, einer der Väter der Analyse-Software PredPol, präsentiert das Programm in der Leitstelle des Polizeidezernats von Los Angeles.
    Foto: Damian Dovarganes/picture alliance/AP Images

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    Der Anthropologe Jeffrey Brantingham, einer der Väter der Analyse-Software PredPol, präsentiert das Programm in der Leitstelle des Polizeidezernats von Los Angeles.

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    Die Software HunchLab basiert u.a. auf Auswertungsmethoden zur Bekämpfung von Epidemien.
    Foto: HunchLab

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    Die Software HunchLab basiert u.a. auf Auswertungsmethoden zur Bekämpfung von Epidemien.

    Foto: HunchLab

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    Besonders weitläufige und polizeilich unterbesetzte Städte wie Los Angeles setzen verstärkt auf Predic­tive Policing.
    Foto: Patrick T. Fallon/The Washington Post via Getty Images

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    Besonders weitläufige und polizeilich unterbesetzte Städte wie Los Angeles setzen verstärkt auf Predic­tive Policing.

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    Foto: Ann Hermes/The Christian Science Monitor via Getty Images

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Predictive Policing – auf Streife mit Big Data

Die Digitalisierung scheint den Traum eines jeden Gesetzeshüters wahr werden zu lassen: die Vorhersage von Verbrechen. In vielen Städten der USA setzt die Polizei bereits auf Computerprogramme, die die Wahrscheinlichkeit von Diebstahl, Einbruch oder sogar Mord auf 120 Meter genau prognostizieren. Auch deutsche Bundes­länder experimentieren mit solchen Datenanalyse-Systemen. Doch deren Objekti­vität ist fraglich

Text: Shapiro, Aaron, Pennsylvania

Im Jahr 2009 erschien im Police Chief Magazine ein Artikel von Charlie Beck, Chief of Detectives am Los Angeles Police Department (LAPD). Darin forderte er seine Kollegen in der Polizeileitung auf, sich zu überlegen, wie sich die Vollzugsbehörden Big-Data-Analyse zunutze machen könnten, wie sie beispielsweise von Einzelhandelsunternehmen entwickelt wird. „Unternehmen wie Wal-Mart haben schon seit langem begriffen, wie wichtig es ist, zukünftige Nachfrage zu antizipieren oder zu prognostizieren.“, so Beck. Ähnlich der bedarfsorientierten „just-in-time“-Produktion, die mit Hilfe von Datenanalyse Nachfrageschübe und -tiefs vorhersagt, solle die Polizei sich Prognosen bedienen, die ihr einen „gezielteren Einsatz von Ressourcen ermöglichen, wo und wann sie gebraucht werden, um Straftaten durch starke Polizeipräsenz zu verhindern“.
Zu dem Zeitpunkt arbeitete Beck unter der Leitung des damaligen Polizeichefs William Bratton daran, dieses Konzept des „Predictive Policing“ – wörtlich übersetzt die „vorhersagende Polizeiarbeit“ – durchzusetzen. Predictive Policing war Brattons cause célèbre während seiner Zeit beim LAPD. Über die potentiellen Anwendungsbereiche des Verfahrens wurde damals ziemlich zügellos spekuliert. Gemeinsam mit der Abteilung für Forschung und Entwicklung des US-Justizministeriums, dem National Institute of Justice, leitete Bratton 2009 und 2010 zwei Symposien, auf denen diskutiert wurde, wie eine angewandte Predictive-Policing-Technologie aussehen könnte und was sie bewirken sollte. Als potentielle Anwendungen ausgemacht wurden etwa das „Prognostizieren von Terrorakten“, „Verkehrsmanagement“, „Ordnungsdienst“, das „Identifizieren von Opfern nicht gemeldeter Straftaten“ sowie die „Risikoprognose für exzessive Gewaltanwendung“ unter Polizeibeamten.
Ab 2010 begannen viele Firmen, Brattons Forderungen nach Predictive Policing aufzugreifen. Einige dieser Unternehmen werden durch Risikokapital unterstützt; andere sind im Besitz von marktführenden Unternehmen wie Microsoft und Motorola oder werden von ihnen geleitet. Doch trotz des breiten Spektrums von Anwendungen, die auf den Symposien diskutiert wurden, sind die derzeit auf dem Markt erhältlichen Produkte erstaunlich begrenzt. Zudem haben mangelnde Transparenz und die profit- und marketing-orientierten Verträge zwischen diesen Unternehmen und ihren Kunden von der Polizei unter Bürgerrechtlern in den USA viel Empörung und Kritik ausgelöst. Anstatt Wahrnehmungsverzerrungen bei der Polizeiarbeit zu mildern, so die Kritiker, würden diese Technologien die Diskriminierung bei der Erfassung von Verdächtigen und die Überwachung sozial schwacher Bevölkerungsgruppen noch verstärken.

Täterbasierte oder georäumliche Modellierung

Predictive Policing arbeitet mit zwei Kategorien: täterbasierter und georäumlicher Modellierung. Täterbasierte Modellierung stützt sich auf demografische Angaben und Täterbiografien, um Risikoprofile für Einzelpersonen zu erstellen. Georäumliche Modellierung verwendet Verbrechensdaten, um Risikoprofile für Stadträume zu generieren. Wissenschaftler und Journalisten, die sich mit täterbasierter Modellierung befassen, haben aufgezeigt, dass die Deliktprognose für Personen anfällig ist für Rassen- und Klassenvorurteile, so dass diese Systeme letztendlich das fundamentale Prinzip der amerikanischen Strafjustiz – die Unschuldsvermutung – untergraben. Doch Straftäter sind nicht so berechenbar wie die Orte, die sie wählen, um ihre Straftaten zu begehen, weswegen georäumlichem Predictive Policing mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Im Rahmen meiner Forschungen habe ich georäumliches Predictive Policing untersucht und, von 2015 bis 2016, das Produktteam des darauf spezialisierten Programms HunchLab begleitet. Die Mitarbeiter von Hunch-Lab waren sich der Kritik sehr wohl bewusst und arbeiteten an technischen Lösungen, um die ihrer Meinung nach zu Grunde liegenden Quellen der Wahrnehmungsverzerrungen in der Polizeiarbeit zu verbessern. Sie hoffen, dass die Datenanalyse nicht nur das Ressourcenmanagement der Polizeidienststellen verbessern könnte (etwa durch eine erhöhte Effizienz bei der Einteilung von Streifeneinsätzen), sondern auch das Verhältnis zwischen Polizei und Bürger. Mit diesem Engagement stehen die Macher von HunchLab im wachsenden Feld der Polizeitechnologie aber ziemlich
alleine da.

Die Beziehung zwischen Delikt und Ort

Georäumliches Predictive Policing ist das neueste Konzept in einer langen Geschichte kriminologischer Modelle, die Ort und Sozialcharakter mit­einander verknüpfen. Im 19. Jahrhundert herrschte unter Reformern und in den damals im Entstehen begriffenen Polizeiapparaten gleichermaßen die Auffassung, dass die Moral des „urbanen Subjekts“ von seinem Milieu geprägt werde. So bezog Edwin Chadwicks „Sanitary Report of London“ im Jahr 1842 die „Inaugenscheinnahme“ von armen Quartieren und Arbeitervierteln mit ein, um Entscheidungen darüber zu treffen, bei welchen Per­sonen und an welchen Orten Maßnahmen ergriffen werden sollten. In ähnlicher Weise richteten in der Anfangszeit die Polizeidienststellen ihre Aufmerksamkeit in erster Linie auf Orte, die für kriminelle Aktivitäten besonders anfällig waren, um den Nutzen gezielter Interventionen zu maximieren.
Der Soziologe David Garland prägte 2001 den Terminus „criminogenic situation“ (kriminogene Situation), um diese Beziehung zwischen Delikt und Ort zu beschreiben. „Die Annahme lautet, dass kriminelle Handlungen sich in der Regel dort ereignen werden, wo Kontrollen fehlen und attrak­-­tive Ziele vorhanden sind, egal ob die Einzelpersonen eine ,kriminelle Ver­anlagungʼ haben oder nicht.“ Ein Großteil der heutigen Polizeiarbeit stützt sich im Grunde auf diese Theorie. Hot-Spot-Policing – das derzeit als die beste Praxis im Streifendienst gilt – verwendet historische Deliktdaten, um Orte zu identifizieren, wo sich Straftaten mit großer Wahrscheinlichkeit wieder ereignen werden.
In den neunziger Jahren wurde diese Logik systematisiert und computerisiert als Teil der Managementstrategie „CompStat“ („Computerized Statistics“). Erstmals 1994 während William Brattons Amtszeit als Präsident des New York Police Department implementiert, wird CompStat inzwischen von Polizeibehörden weltweit angewandt. Das System nutzt Daten – Ort, Zeit und Art der begangenen Straftat –, um die Chefs der Polizei­bezirke für das Erreichen bestimmter Ziele der Verbrechensbekämpfung in ihrem Zuständigkeitsbereich verantwortlich zu machen.
Georäumliches Predictive Policing erweitert diese Linien der Überprüfbarkeit und Verantwortlichkeit bis hinunter zum gewöhnlichen Streifen­beamten. Indem es für jede Schicht des Streifendienstes die Datenbanken und Analysen zu Straftaten aktualisiert, und indem es automatisierte GIS- Technologie (Geospatial Information Systems) verwendet, ermöglicht Predictive Policing auch neue Stufen der Detailgenauigkeit: Die Gebiete, für die ein hohes Deliktrisiko prognostiziert wird, ändern sich bei jeder Schicht. Sie werden heute in einem Raster von 120 auf 120 Metern prognostiziert anstatt für ein ganzes Viertel.
Während die Strafverfolgungsorgane begeistert von diesen neuen Stufen der Detailgenauigkeit und Verantwortlichkeit sind, sehen Kritiker Anlass zur Sorge. Hot-Spot-Policing und gezielte polizeiliche Interventionen werden zusammen mit repressiven Taktiken wie dem Anhalten und Durchsuchen von Passanten eingesetzt, die sich in den USA erfahrungsgemäß überproportional gegen Afroamerikaner und Latinos richten. Obwohl es detailgenauer ist, dürfte Predictive Policing diese Muster reproduzieren, auch wenn Befürworter das Gegenteil behaupten. Werden Algorithmen auf Daten gerichtet, die mit polizeilichen Verbrechensstatistiken erzeugt werden, so werden sie höchstwahrscheinlich Outputs produzieren, die alle Mängel des Systems widerspiegeln, aus dem sich diese Statistiken speisen. Wie es im Englischen so schön heißt: Garbage in, Garbage out.

Algorithmische Autorität und Objektivität?

Die Algorithmen könnten den gezielten Streifeneinsätzen und Interventionen einen unangemessenen Grad an Gewissheit an die Hand geben. Wie bei anderen Anwendungen in den Bereichen Big Data und maschinelles Lernen wird allgemein angenommen, dass die Analyse der Deliktdaten geografische Variationen und Fluktuationen derartig fein erfasst, dass die Ergebnisse über das vom Menschen Wahrnehmbare hinausgehen und so­-mit objektiver sind. Ein genauer Blick auf die Prognose-Algorithmen legt allerdings einige schwerwiegende Begrenzungen ihrer vermeintlichen Autorität und Objektivität offen.
Ein kurzer Vergleich zwischen HunchLab und seinem größten Konkurrenten, der Software PredPol, verdeutlicht dies. In den Vereinigten Staaten ist PredPol gegenwärtig Marktführer bei Predictive Policing. Die PredPol-Algorithmen wurden von einem Team von Professoren der University of California in Los Angeles – dem Anthropologen Jeffrey Brantingham und dem Mathematiker Andrea Bertozzi – entwickelt. Sie fußen auf einer wackligen Theorie, die von Ähnlichkeiten zwischen geografischen Deliktmustern und natürlichen Ereignissen wie seismologischer Aktivität ausgeht. Das kriminologische Konzept, das PredPols Algorithmus am nächsten kommt, wird als der Near-Repeat-Effekt bezeichnet – auf ihm basiert auch das in Deutschland eingesetzte Predictive-Policing-Programm Precobs (siehe Kasten Seite 53). Near Repeat wurde in den neunziger Jahren von britischen Experten der quantitativen Kriminologie formuliert, die ein Verteilungsmuster bei Wohnungseinbrüchen feststellten: Bei Wohnungen, in die bereits einmal eingebrochen wurde, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass nochmal in sie eingebrochen wird, und es bestand ein höheres Risiko, dass auch in Wohnungen in der Nähe eingebrochen wird.
Doch nicht alle Straftaten folgen dem Near-Repeat-Muster. Wohnungseinbrüche und Autodiebstähle können damit durchaus vorausgesagt werden, nicht unbedingt aber Überfälle, Vergewaltigungen oder Morde. Dies ist eine oft übersehene, aber schwerwiegende Einschränkung. Pauschale Fehlzuordnungen von Near-Repeat-Prognosen auf ungeeignete Kriminalitätsarten könnten dazu führen, dass Streifenressourcen auf sozial schwache und unterversorgte Stadtviertel umgeleitet werden, in denen ohnehin schon ein Übermaß an Polizeipräsenz herrscht.
HunchLab wählt eine andere Vorgehensweise. Anstatt sich auf nur ein kriminologisches Konzept zu stützen, umfasst ihr Modellierungssystem so viele Datenquellen wie möglich. Zudem verwendet die Software Techniken des maschinellen Lernens, um „fallspezifische“ Modelle für jeden Delikttyp in jeder Stadt zu erstellen, für die entsprechende Daten zur Verfügung stehen. Eine als „gradient boosting“ (Gradientverstärkung) bezeichnete Methode, die Abertausende von Entscheidungsbäumen verwendet, erlaubt es dem Algorithmus, zu erfassen, welche Variablen am wahrscheinlichsten welche Delikttypen voraussagen können. Mit anderen Worten: Anstatt alle Arten von Straftaten nur mit einem einzigen kriminolo­gischen Konzept zu erfassen, kann bei HunchLab der Algorithmus erkennen, welche kriminologischen Konzepte welche Deliktmuster am besten darstellen. Während dies ein viel feinkörnigeres Bild der relevanten Variablen ergeben kann, mit denen unterschiedliche Delikte vorausgesagt werden können, könnte es aber auch unsere Wahrnehmung für strukturelle Voraussetzungen von Verbrechen (wie Armut oder ungleichen Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen) einschränken.
Beide Systeme haben Vor- und Nachteile. Eine aktuelle Studie von Mitgliedern der Human Rights Data Analysis Group hat ergeben, dass, wür­de man die enggefasste Near-Repeat-Modellierung auf Drogendelikte anwenden, das System die Polizisten in Gegenden mit hohem Anteil ethnischer Minderheiten schicken würde – obwohl nachgewiesen ist, dass Drogenmissbrauch gleichermaßen über ethnische Grenzen verteilt ist. Pred-Pol konterte mit dem Argument, dass ein System wie HunchLab bestehende Wahrnehmungsverzerrungen eher noch verstärken würde, da sich die Algorithmen durch die Einbeziehung größerer Datenmengen mit größerer Wahrscheinlichkeit an Variablen festmachen würden, die stark mit Ethni­zität korrelieren, und so Rassendiskriminierung verstärken.
Gegenwärtig gibt es noch nicht genug Daten, um festzustellen, welcher Systemtyp mit größerer Wahrscheinlichkeit verzerrte Muster der Polizeiarbeit reproduziert. Zwar werden Polizeibehörden mit staatlichen Mitteln unterstützt, um Predictive-Policing-Produkte zu übernehmen und zu prüfen – doch nicht, um zu messen, wie sich die Polizeiarbeit auf die entsprechenden Bevölkerungsgruppen auswirkt. Allerdings ist bekannt, dass viele Polizeidienststellen, die Predictive-Policing-Technologien übernommen haben (oder vorhaben, dies zu tun), sich schwertun mit dem Verhält­-nis zwischen Polizei und Bürgern sowie mit ihrer eigenen Legitimität. Besonders in Ländern mit repressiven rechten Regierungen gilt es, Predictive-Policing-Technologien mit erhöhter Wachsamkeit zu begegnen, um dafür zu sorgen, dass diese kommerziellen Produkte nicht irgendwann zur alleinigen Form der Rechenschaftspflicht der Polizei werden.
Übersetzung aus dem Englischen: Matthias Müller

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