Raster : Grünau
Schrumpfendes Leipzig – das war einmal. Heute verzeichnet sogar die Großsiedlung Grünau wieder Zuwachs. Dort gibt es zum vierzigsten Jahrestag der Grundsteinlegung ein Kunst- und Architekturfestival
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Raster : Grünau
Schrumpfendes Leipzig – das war einmal. Heute verzeichnet sogar die Großsiedlung Grünau wieder Zuwachs. Dort gibt es zum vierzigsten Jahrestag der Grundsteinlegung ein Kunst- und Architekturfestival
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Vierzig Jahre Großwohnsiedlung Grünau können dieses Jahr im Leipziger Westen gefeiert werden: Am 1. Juni 1976 wurde der Grundstein für den ersten von insgesamt acht Wohnkomplexen gelegt, in denen 1989 rund 85.000 Menschen wohnten. Mit dem Untergang der DDR im selben Jahr setzte der Niedergang ein, bis 2010 nur noch knapp 41.000 Einwohner übrig und etliche Hochhäuser gefallen waren. Doch mittlerweile ist die Zeit des Schrumpfens und Abreißens vorüber. Denn nicht nur die Gründerzeitviertel der Stadt erfreuen sich im wachsenden Leipzig großer Nachfrage, auch Grünau hat sich stabilisiert, ist sogar wieder gewachsen. Neue Wohnhochhäuser sind in Planung – dieses Mal aber für den Eigentumswohnungsmarkt.
Gute Umstände also für ein Festival, das sich bis Ende Juli geschichtlichen Fragen der Großsiedlung widmen will, aber auch Kunstprojekte und eine Ausstellung im Kunstraum D21 im nahen (gründerzeitlichen) Stadtteil Lindenau umfasst und nicht zuletzt aktuell drängende Themen berührt. Denn mag „Raster : Beton“ auch nicht der erste Veranstaltungsreigen mit stadtgeschichtlich-künstlerisch-spielerischer Grundierung sein, der sich mit dem Phänomen Großsiedlung befasst, sind die Fragestellungen heute doch andere als einst in Halle-Neustadt („Hotel Neustadt“, 2003) oder Hoyerswerda („Superumbau“, Bauwelt 34.2003). Für eineinhalb Monate lebten die teilnehmenden Künstler in Grünau, um diesen Fragen näher zu kommen und zusammen mit den Bewohnern zu bearbeiten.
Die Berliner Künstlerin Folke Köbberling etwa entwickelte in einem Workshop gemeinsam mit Mietern und Flüchtlingen eine Wandgestaltung für eine leerstehende Kaufhalle im Wohnkomplex II. Die erinnert auf den ersten Blick an die ornamentalen Beton-Fertigteile der DDR-Bauproduktion, basiert aber auf orientalischen Mustern, welche ein aus Syrien nach Grünau gelangtes Ehepaar, sie Grafikerin, er Architekt, der Workshop-Gruppe vorgeschlagen hat. Aus Wachs gegossen, wird die Wandverkleidung in der Hitze des Sommers allmählich verlaufen, abtropfen, Schlieren ziehen, eine neue Gestalt annehmen.
Zur Pressekonferenz Mitte Juni bereits vollendet war auch die Arbeit der französischen Grup-pe Bruit du Frigo. Die freundlichen jungen Männer haben ein Lochkamera-Kino auf Rädern gebaut, das sie durch die Siedlung ziehen und in dem Passanten ihre Umgebung „auf den Kopf gestellt“ sehen können. Wahrnehmungsgewohnheiten in Frage stellen, heißt so etwas im Fachjargon, kann aber durchaus Freude machen (sofern das Lüftungsproblem der engen Kabine inzwischen glücklich gelöst werden konnte).
Prozesse der Wahrnehmung des Quartiers, seiner gesellschaftlichen Konnotationen sowie der hier im letzten Vierteljahrhundert erlebten Ab- und Aufwertung thematisiert auch Daniel Thei-ler mit seiner Arbeit „GGR“, dem „Grünau Golf Ressort“. Der im Sozialismus verpönte Sport wird in die längst parkartig ausgewachsenen Grünräume der Großsiedlung getragen, deren Weitläufigkeit und Opulenz zelebrierend. Auf Seiten der Bewohner könnte sich ein Gefühl von „Dazugehören“, von „Erwähltsein“ einstellen, das den Bogen schlägt von den heutigen Volten kapitalistischer Stadt- und Wohnraumverwertung zurück zum sozialistischen Nachfragehoch nach einer Wohnung im Neubau. Vierzig Jahre Grünau – und alles beim Alten? Grund zum Feiern.
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