Bauwelt

Reparaturgesellschaft, Zwischennutzung und Architektur

Industriebauten werden aufgelassen, leergezogen und abgerissen. Diese Aussage trifft immer noch zu häufig zu, aber es gibt auch andere Geschichten: Industriebauten werden aufgelassen, wiederentdeckt und umgenutzt. Darüber wird in diesem Heft ausführ­licher berichtet, nicht zuletzt auch mit der leisen Hoffnung, dass noch viel mehr dieser Bauten als Ressource, Denkmal und Architektur wertgeschätzt werden.

Text: Oevermann, Heike, Wien

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Reparaturgesellschaft, Zwischennutzung und Architektur

Industriebauten werden aufgelassen, leergezogen und abgerissen. Diese Aussage trifft immer noch zu häufig zu, aber es gibt auch andere Geschichten: Industriebauten werden aufgelassen, wiederentdeckt und umgenutzt. Darüber wird in diesem Heft ausführ­licher berichtet, nicht zuletzt auch mit der leisen Hoffnung, dass noch viel mehr dieser Bauten als Ressource, Denkmal und Architektur wertgeschätzt werden.

Text: Oevermann, Heike, Wien

Die Wiederentdeckung der Industriebauten steht in einem gut 150 Jahre andauernden Prozess, in dem zunächst (nur) Sammlungen technischer Geräte und Anlagen aufgebaut wurden, wie auch die Ausstellungen der Produkte industrieller Fertigung. Die forschende Aufarbeitung der Entwicklung von Schlüsseltechnologien, zum Beispiel die der Dampfmaschine, ging einher mit der Gründung von Technikmuseen, so im Jahr 1903 das Deutsche Museum in München. Industriebauten spielten bis dahin kaum eine Rolle. Schließlich wurden durch frühe Schutzbestrebungen wie bei der Sayner Hütte 1926 auch einer breiteren Öffentlichkeit die Möglichkeit der Wertschätzung von historischen Industriearchitekturen bekannt. Aber bei all diesen Erkenntnissen, Events und Erhaltungserfolgen handelte es sich um wenige, ausgewählte Ikonen der Technik und Industrie. Weder war von Regionalentwicklung, räumlichen Ressourcen, noch von Zwischen- oder Umnutzungen die Rede. Erst in den 1970er und 1980er Jahren mit den Internationalen Bauausstellungen in Berlin und dann im Ruhrgebiet wurde die Gretchenfrage gestellt: Abriss oder Erhaltung?
Das Jahr 1995 möchte ich als Wendepunkt im Diskurs verorten: die Tagung des Deutschen Nationalkomitees von ICOMOS gemeinsam mit dem Lehrstuhl für Denkmalpflege und Bauforschung der Universität Dortmund und deren Publikation unter der Überschrift: „Das Denkmal als Altlast? Auf dem Weg in die Reparaturgesellschaft“ fand auf der Kokerei Hans in Dortmund statt und beschäftigte sich explizit mit den industriellen Hinterlassenschaften nicht nur aus denkmalpflegerischer Perspektive, sondern auch mit Fragen nach Ressourcenschonung, Kreislaufwirtschaft und Fortschrittserwartung. Die Tagung stand im Kontext der IBA Emscher Park, die seit 1989 die Erhaltung von Industriebauten und technischen Anlagen und Regionalentwicklung zusammendachte und zusammenbrachte. Fünf Jahre später erschien das Standardwerk „Denkmale des Industriezeitalters“, das der „Deindustrialisierung als Ideal des ressourcenschonenden Wirtschaftens“, sowie Entstehung und Wandel von Erhaltungskonzepten eigene Kapitel widmete. Kunst und Kultur fanden Einlass in Industriegebäude, die nun auch als Kulturgut und unser gemeinsames Erbe verstanden wurden, welches sich einprägsam in unsere Umwelt eingeschrieben hatte. Aufgelassene Industrieanlagen waren nun defi­nitiv kein Abfall mehr, seine Metamorphosen wurden zu Möglichkeitsräumen, so häufig die Formulierung in den folgenden Jahren. Man könnte meinen, damit war alles gesagt.
Doch das Verschwinden der Bauten des Industriezeitalters hält an. Nicht nur hat sich der Abriss in den Jahren von 1980 bis 2004 massiv beschleunigt, sondern er ist für die Bauten von Industrie und Gewerbe um den Faktor 5 höher als für Wohnbauten, wie Ute Hassler und Niklaus Kohler nachweisen. Für historische Textilindus­trie­bau­ten gilt, und dies ist sicherlich übertragbar: erhalten werden meist die Geschoßfabriken und Backsteinbauten, Bauten mit geringen Tiefen, guter Belichtung und Belüftung, sowie repräsentativen Fassadengestaltungen. Auch heraus­ra­gende Beispiele von Pionierleistungen des Industriebaus stehen im Erhaltungsinteresse, auch weil diese unter Denkmalschutz stehen (sollten).
Andere Erhaltungsmotivationen wurden sichtbar, als aufgelassene Industriebauten von Sub- und Stadtkultur entdeckt, angeeignet und in Wert gesetzt wurden. Oftmals als günstige und einfach zu mietende oder zu besetzende Räumlichkeiten gesehen oder durch loft-coolness in New York gehypt, kam schließlich kaum ein Modelabel ohne eine Show in aufgelassenem Baubestand oftmals industrieller Provenienz aus. Zwischennutzungen konnten in einigen Gebäuden und Komplexen in dauerhafte Nutzungen übergehen; oder es reihten sich eben Projekte an Projekte. Hier mag gerade auch die IBA Emscher Park wichtige Impulse der inkrementalen Planung gesetzt haben. Temporäre Projekte bestehen nun an manchen Orten so lange, bis eine erneute Auflassung des Bestandes außerhalb des Vorstellbaren liegt. Oftmals waren die Pioniere aber solche, die den Ruf und das Image der vorher als schäbig angesehenen Orte aufpolierten, was wiederum der Immobilienmarkt in den pros­perierenden Städten gerne begrüßte und die Pioniere der Zwischennutzungen dankend verabschiedete, sei es in Berlin, Mailand oder London.
Industrielles Erbe als commons
Vielleicht können wir unser gebautes industri­elles Erbe aber heute wieder als Chance sehen, um zu einem erweiterten Verständnis der Gemengelage aus baulicher Hinterlassenschaft, gesellschaftlichen Prozessen, Denkmalschutz und Architektur zu gelangen. Projekte im und mit dem Bestand sind Möglichkeiten zur (Er-)Findung von Gemeingütern, von commons. Erfahrungen aus vielfältigen Orten in Europa, wie unter anderem das EU-Projekt open heritage, zeigen die Bedeutung der Prozesse im Zusammenspiel von Menschen und Räumen bei der Entdeckung und Entfaltung der Potentiale aufgelassener Bauten. Drei Aspekte sind dabei wichtig: Die gemeinsame und geteilte bauliche Ressource, die gemeinschaftlichen Institutionen und Regeln, die die Pflege, Verwaltung und Nutzung der Ressource regeln, und die Kooperation der beteiligten Akteure. Gleichzeitig geht es darum, in die Nachbarschaft, die Stadtgesellschaft und die Regionalentwicklung hinein zu wirken.
Solche Projekte werden insofern zu commons, als Gruppen ein gemeinsames Interesse arti­kulieren und sich zu verschiedenen Themen organisieren, zum Beispiel zur Bereitstellung und Verwaltung von erschwinglichem Wohnraum, zur Gesundheitsversorgung, zu Bildung oder zur Förderung von Arbeitsplätzen und lokalen Geschäftsmöglichkeiten, und die Gewinne wieder in gesellschaftliche Belange einbringen. Ein so verstandenes offenes Erbe umfasst unterschiedlichste Gebäude, Komplexe und Räume, die eine symbolische oder praktische Bedeutung für die Menschen haben; es sind nicht mehr nur die Ikonen der Industrie und Technik. Damit könnte auch eine neue Alltäglichkeit des Erhaltens eintreten. Eine Alltäglichkeit, die unterschiedliche Sichtweisen auf das gebaut Vorhandene selbstverständlich hereinnimmt in einen Prozess der Interpretation und Präsentation der Vergangenheit und vielschichtige Raumressourcen und Potenziale für die Zukunft anbietet. Was muss also passieren, damit nicht nur für wenige Industriebauten der Denkmalschutz als Erhaltungsmotivation und Instrument greift, sondern wir die industriellen Hinterlassenschaften in ihrer Vielzahl wertschätzen und erhalten, und ja, auch adaptieren?
Das Heft zeigt, dass—endlich: würde man als Architekturschaffende sagen—und wie Architektur gemacht wird und gemacht werden kann mit und durch historische Industriebauten. Eine Architektur, die sich zuvor intensiv mit dem Bestand auseinandersetzt, die die Atmosphäre, die Geschichten und die räumlich-repräsentative Offenheit des Vorhandenen im besten Sinne eines as-found nutzt. Dies läuft sicher nicht ohne Konflikte ab und die neuen Akteure mögen nicht die alten sein, jene nämlich, die die Deindus­trialisierung durch Arbeitsplatzverlust erfahren haben und nun auch noch ihre Arbeitsorte in Kreativität, Kunst und auch Kommerz verwandelt sehen. Die Konflikte werden zu beachten sein.
Zudem bestehen Defizite in der Bausubstanz, in fehlenden Anbindungen oder Altlasten. Die energetischen Leistungen von Dächern, Fassaden und Fenster mögen den Baustandards für Neubauten nicht genügen. Suffizienzansätze in der technisch-energetischen Ausstattung, wie auch Flexibilität der Verordnungen braucht es im Umgang mit den aufgelassenen Industriebauten. Auch einige Fachkreise sind immer wieder erzürnt, dass technische Anlagen und Maschinen verschwinden zugunsten von Verkäufen in die globalisierte Welt und zugunsten von nutzbarem Raum, der vor der Industriekulisse gleich viel mehr Atmosphäre aufweist. Diese konfligierenden Felder können bearbeitet werden mit Sachkenntnis und Abwägung, sowie eben auch mit Innovation und Kreativität.
Braucht es das große, dominante Zeichen einer neuen Architektur, die Attraktivität verspricht im Wettbewerb der Regionen um Köpfe und Kapital, oder geht es auch bescheidener und vor allem respektvoller in der Auseinandersetzung mit historischen Konstruktionen, Kubaturen und Konzepten? Das große Plus der Industriebauten ist, dass sie da sind, oftmals räumliche Besonderheiten aufweisen, die zwar nicht einmalig sind, aber aus vielen Neubauten, Wiederholungen und unterschiedslosen Räumen herausstechen. Für gelungene Projekte braucht es Akteure auf der Auftraggeberseite, die nicht abreißen wollen, weil es einfacher und vermeintlich lukrativer sein kann, sondern die sich mit in diese Aufgabe der Reparatur und Umnutzung hineinbegeben. Es braucht Menschen, die diese Industriebauten einfordern und sich aneignen, genauso wie es Architektinnen und Architekten braucht, die die Erhaltung gestalten.

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