Bauwelt

Schatten über dem Paradies

Die neue Südtiroler Architektur hat Lichtpunkte in der gestressten Region gesetzt

Text: Stock, Wolfgang Jean, München

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    Noch vor wenigen Jahren ein idyllischer Geheimtipp, heute ein weltweit bekannter Top-Spot auf Instagram & Co: der Pragser Wildsee im Pustertal.
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    Noch vor wenigen Jahren ein idyllischer Geheimtipp, heute ein weltweit bekannter Top-Spot auf Instagram & Co: der Pragser Wildsee im Pustertal.

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    An Spitzentagen kommen mehrere Tausend Besucher.
    Foto: stol.it/cl

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    Frühes Beispiel eines Sporthotels: Das Hotel Drei Zinnen in Sexten, 1930 nach Plänen von Clemens Holzmeister erbaut, wurde 1994 von Christoph Mayr Fingerle behutsam saniert und modernisiert.
    Foto: Atelier Kromar, Innichen

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    Frühes Beispiel eines Sporthotels: Das Hotel Drei Zinnen in Sexten, 1930 nach Plänen von Clemens Holzmeister erbaut, wurde 1994 von Christoph Mayr Fingerle behutsam saniert und modernisiert.

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    Einfluss „von außen“: Musikschule am Stadtrand und ...
    Foto: © Marco Cappelletti, mit freundlicher Genehmigung der Architekten

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    ... Bibliothek im Zentrum Brixens von Carlana Mezzalira Pentimalli aus Treviso, beide 2021 fertiggestellt.
    Foto: © Marco Cappelletti, mit freundlicher Genehmigung der Architekten

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    ... Bibliothek im Zentrum Brixens von Carlana Mezzalira Pentimalli aus Treviso, beide 2021 fertiggestellt.

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Schatten über dem Paradies

Die neue Südtiroler Architektur hat Lichtpunkte in der gestressten Region gesetzt

Text: Stock, Wolfgang Jean, München

Südtirol, ach Südtirol möchte man zuweilen seufzen. Da ist die nach dem Zweiten Weltkrieg noch sehr arme Bergregion zu einer der reichsten italienischen Provinzen geworden – aber zu welchem Preis! Wer die Entwicklung über fünf Jahrzehnte hinweg intensiv verfolgt hat, muss zu einem ambivalenten Urteil kommen. Auf der einen Seite ist geradezu staunenswert, welchen Aufschwung die Südtiroler Architektur und Baukultur in den Jahren seit 2000 genommen haben. Auf der anderen Seite haben sich Stadt und Land nicht nur zu ihrem Vorteil verändert. Auf Anhieb springen an vielen Orten der Landfraß für Gewerbezonen und Verkehrsbauten sowie eine offenbar ungebremste Zersiedelung ins Auge.
Wer vor fünfzig Jahren die Weinstraße bereiste, der nahm die schon damals beliebte Urlaubs-region in einer Gestalt wahr, die nicht nur landes-typische Bau- und Siedlungsformen vermittelte, sondern auch Bescheidenheit ausstrahlte. Die Straßen für den seinerzeit noch mäßigen Verkehr waren eher schmal, die Dörfer und kleinen Städte kompakt, das alltägliche Leben zwischen den weit gespannten Rebhängen war unauf-geregt. Auch in den Tälern dienten die teilweise schlichten Gasthöfe und Privatquartiere ganz „altmodisch“ der Sommerfrische. Selbst Bozen, die Provinzhauptstadt, schien in sich zu ruhen – bis hin zur Behäbigkeit. Was heutzutage schier unmöglich ist, war damals kein Problem: Sogar ins Zentrum konnte man ungehindert mit dem Auto hineinfahren.
Wie umfassend sich die Umwälzung in weiten Landstrichen vollzog, zeigte 2015 eine Ausstellung zur 50-Jahr-Feier der Brennerautobahn in der Franzensfeste, die von Markus Scherer und Walter Dietl bis 2009 zu einem Kultur- und Veranstaltungsort umgebaut worden war. Besonders ein großes Foto ist in Erinnerung geblieben: Wo sich heute in der südlichen Industriezone von Brixen die Hallen und Betriebe ballen, erstreckten sich einstmals große Obstplantagen. Sicherlich bringt jeder wirtschaftliche Aufschwung auch Einbußen mit sich, doch musste man die Kulturlandschaft im Eisacktal derart verwüsten? Ähnlich dramatische Entwicklungen gab es im Pustertal oder rund um Bozen, das mittlerweile auch von Verkehrsanlagen umzingelt ist. In der Tageszeitung Dolomiten konnte man schon in den 1990er Jahren die Klage lesen, dass das Land vom Güter- und Urlaubsverkehr überschwemmt werde. Die Schattenseiten des Erfolgs wurden immer deutlicher.
Problem Übertourismus
Griechische Inseln vielleicht ausgenommen, wird keine andere europäische Urlaubsregion in den Medien derart beworben wie Südtirol. Im Fernsehen lassen sich die Sendungen kaum zählen: von Rund um Meran über Wunderschön bis hin zum Bozen-Krimi mit seinen idyllischen Schauplätzen. Immer wieder kommen Urlauber zu Wort, die das Land zwischen Brenner und Salurner Klause als „Paradies“ preisen. Was die wachsende Reiselust von immer mehr Menschen anrichtet, dokumentiert die aktuelle Ausstellung Über Tourismus im Wiener Architekturzentrum (Bauwelt 14.2024). Die von einem umfangreichen Buch begleitete Schau fragt danach, ob es einen Tourismus geben könne, der nicht zerstört, wovon er lebt.1
Auch und gerade für Südtirol lassen die Zahlen aufhorchen: Auf rund 500.000 Einwohner kommen jährlich über 30 Millionen Übernachtungen. Damit erfüllt Südtirol das von den Vereinten Nationen definierte Kriterium des Übertourismus. Der Landesregierung ist das Problem bewusst, weshalb sie einen Bettenstopp durchsetzen will. Doch der Widerstand aller, die am Urlaubsgeschäft kräftig verdienen, ist groß. Vor allem die Hoteliers und Seilbahnbetreiber verweisen zu ihrer Entlastung auf den erheblichen Anteil des Tourismus an der regionalen Wertschöpfung.
Egoismus steht gegen Gemeinwohl. Welche Ausmaße der Massentourismus erreicht hat, lässt sich nirgendwo drastischer erleben als am Pragser Wildsee im Pustertal. Noch vor 15 Jah-ren war der von Bergen umfangene kleine See ein entspanntes Ziel für Radfahrer und Wande-rer. Was aus diesem Ort inzwischen geworden ist, zeigt die mehrfach ausgestrahlte Dokumentation Dolomiten in Gefahr? in beklemmender Weise. Schon frühmorgens stauen sich die Autos an den Ampeln der Blockabfertigung. Bewaffnet mit ihren Smartphones und angeregt durch einen international gesendeten Kultfilm, versammeln sich Menschen aus allen Kontinenten. „The best place for selfies in Italy“, tönt ein Paar aus den Niederlanden, das zwölf Stunden Autofahrt auf sich genommen hat, um lediglich ein Verlobungsfoto vor der Bergkulisse zu schießen. Genauso überlaufen ist das Massiv der Drei Zinnen: Bis zu täglich 13.000 Besucher quetschen sich um die Felsen im Welterbe der Unesco.
Viele Einheimische sind am Ende ihrer Geduld. Sie beklagen den „Ausverkauf der Heimat“ und fordern „Raus aus dem Rummel“ (so auch ein Buchtitel). Sie verlangen nach einem Tourismus, der statt auf Events auf Einklang mit der Bevölkerung setzt – Wanderwege statt noch mehr Skipisten, Ruhe und Erholung statt kommerziellem Unterhaltungsbetrieb. Auch Architektinnen und Architekten müssen sich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen: Geschäfte machen mit teilweise skrupellosen Investoren oder die Kultur des Landes bewahren und ausbauen? Immerhin unterstützen nicht wenige jene Initiativen, die das Primat von Eigennutz und Profit bekämpfen. Die Architektenschaft muss sich aber von jeher mit einer grundsätzlichen Frage beschäftigen: Sie betrifft die Geschichte ihres Landes.
Akzeptanz der Geschichte
Infolge des Ersten Weltkriegs fiel Südtirol 1919 von Österreich an Italien. Jahrzehntelang hat das Land dann eine soziale wie kulturelle Spaltung geprägt. Die erzwungene Italienisierung durch die faschistische Diktatur erzeugte bei der deutschsprachigen Bevölkerung einen wachsenden Widerstand.2 Dieser gipfelte nach 1956 in einer Serie von Bombenattentaten und Sprengstoffanschlägen auf Strommasten und staatliche Gebäude. Erst das zweite Autonomiestatut für Südtirol von 1972 sorgte für ein Nachlassen der politischen Konflikte.
Die Spaltung der Gesellschaft bildete sich auch stadträumlich ab, besonders in Bozen: östlich der Talfer die historische „deutsche“ Stadt, westlich von ihr die neue „italienische“ Kommune. Dieses charakteristische Bild zeigt sich noch heute – und es bestimmte auch lange Zeit die Südtiroler Architekturgeschichtsschreibung. Die Entwicklung wurde geradezu parallel gedeutet: Auf der einen Seite die Fortführung alpenländischer Bautradition, auf der anderen Seite die meist moderate italienische Moderne. Eine frühe Gesamtschau lieferte 1979 die Kulturzeitschrift Arunda mit einem Überblick Südtiroler Architektur seit 1900: Das faschistische Planen und Bauen wurde als Teil der gemeinsamen Geschichte akzeptiert.
Eine ausführliche Darstellung dieser Epoche folgte mit dem Band Die Architektur für ein italienisches Bozen von Oswald Zoeggeler und Lamberto Ippolito (Lana 1992). Das Buch war ein Meilenstein in der Erforschung eines bis dahin überwiegend verpönten Erbes. In der Architektenschaft jedoch hatten sich die Positionen der beiden „Volksgruppen“ schon seit den 1960er Jahren angenähert. Zur allseits geschätzten, ja verehrten Leitfigur wurde der in Innsbruck lehrende Othmar Barth (1927–2010), der mit der jüngst sanierten Cusanus-Akademie im Zentrum von Brixen (1962) und dem Hotel Ambach am Kalterer See (1973) zwei Meisterwerke hinterlassen hat.
Ein Wettbewerb als Pioniertat
Auch in der nächsten Generation konnte ein Einzelner großen Einfluss erzielen: Christoph Mayr Fingerle (1951–2020) mit eigenem Büro in Bozen. Freilich weniger als entwerfender Architekt denn als unermüdlicher Streiter für eine neue Baukultur, als Publizist und Referent sowie als Vermittler ins europäische Ausland. Er war streitlustig, wobei er sich im Hinblick auf mögliche Aufträge nicht nur einmal um Kopf und Kragen redete, weil er bis zu seinem frühen Tod städtebauliche und baukulturelle Missstände anprangerte. Zu seinen großen Publikationen zählen Öffentliches Bauen in Südtirol (Bozen 1993) sowie Dorf und Stadt: Wohngebiete in Südtirol seit 1970 (Bozen 1997).
Seine wichtigste, weil weit ausstrahlende Initiative war ein Wettbewerb, den er 1992 ins Leben rief: Neues Bauen in den Alpen. Mit der kleinen Gemeinde Sexten im Hochpustertal gewann er den Hauptmäzen, der zusammen mit weiteren Sponsoren den Architekturpreis bis 2006 viermal finanzierte. Für diese Pioniertat konnte Mayr Fingerle eine internationale Jury verpflichten, deren Doyen der Wiener Architekturhistoriker Friedrich Achleitner war. Dass die Südtiroler Institutionen den Preis so geduldig unterstützten, war insofern erstaunlich, als erst beim dritten Wettbewerb 1999 Südtiroler Architekten zum Zuge kamen: Walter Angonese und Markus Scherer mit der Kellerei Hofstätter in Tramin.
Dass die Ortswahl auf Sexten fiel, war kein Zufall. Drei Jahre vor dem ersten Wettbewerb hatte Mayr Fingerle dort eine kleine Ausstellung zur alpinen Hotelarchitektur zwischen 1920 und 1940 gezeigt, und zwar im Hotel Drei Zinnen, das als frühes Beispiel eines Sporthotels selbst ein Gegenstand der Schau war. Das mächtige, in einem Südhang hockende Bauwerk, 1930 nach Plänen von Clemens Holzmeister vollendet, wurde denn auch zum „Hauptquartier“ der kommenden Wettbewerbe. Von Friedrich Achleitner stammt das Lob, dass dieses Haus „nicht nur unter Denkmalschutz, sondern auch unter Familienschutz“ stehe.
Die jetzige Besitzerin Waltraud Watschinger tat nämlich das Richtige. Als das von ihrem Großvater erbaute Gebäude in die Jahre gekommen war, verzichtete sie – im Gegensatz zu anderen Hoteliers – auf klobige Auf- und Zubauten. Vielmehr beauftragte sie Mayr Fingerle ab 1994 mit einer behutsamen Sanierung und Modernisierung. Seither befindet sich das Hotel auf der Höhe der Zeit, ohne seinen besonderen Charakter eingebüßt zu haben. Diese Leistung kann man gerade dann würdigen, wenn man das Hotel Hubertus in Olang als Vergleich heranzieht (Bauwelt 4.2023), ein Hotel, das für den auch in Südtirol eingekehrten Luxustourismus steht. Übernachtungspreise von 300 Euro sind kein Einzelfall.
Neue Generationen
Die Wirkung der vier Wettbewerbe auf die Südtiroler Szene ist nicht zu unterschätzen. Preisträger wie Peter Zumthor und Raffaele Cavadini, Günther Domenig und Hermann Kaufmann waren für die einheimische Architektenschaft ein Ansporn, sich durch ebenso qualitätvolle Projekte der Konkurrenz zu stellen. Als Nachzügler wollte Südtirol aufholen, was an neuer Baukultur in der Steiermark, in Graubünden und Vorarlberg bereits entstanden war. Der seit 2000 spürbaren Aufbruchstimmung unter jüngeren Architektinnen und Architekten kam zugute, dass auch in der Politik und in den Behörden eine neue Generation zunehmend das Sagen hatte, ebenso un-ter Bauherrinnen und Bauherren. Sie alle verabscheuten den „Lederhosen-Stil“ der aufgeblasenen Bauernhäuser – sie forderten und förderten eine zeitgerechte moderne Architektur. Private Auftraggeber waren überwiegend anspruchsvolle Weinbauern und Gastwirtinnen, Unternehmerinnen und Handwerker. Inzwischen ist in allen Bereichen eine weitere Generation herangewachsen.
Die architektonischen Lichtpunkte, die quer durchs Land gesetzt wurden, können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mehrzahl des Gebauten noch immer banal bis vulgär ausfällt. Die Kulturzeitschrift Arunda hat das 2009 in ihrer Dokumentation Südtirol baut und baut nicht unterschlagen: Neben vielen positiven Beispielen hat sie „Verhüttelung, Kitsch und Chaos“ ins Bild gebracht. Nicht unwichtig für die Präsentation guter neuer Bauten wie für die kulturelle Berufspolitik der Architektenschaft sind Ausstellungen, Publikationen und Vorträge. Ein besonders schönes Buch ist der Band Auf Gebautem bauen von Susanne Waiz, der sich dem Weiterbauen am Bestand widmet (Bozen 2006). Jeweils einer Leistungsschau gleich kommen die umfangreichen Katalogbücher Neue Architek-tur in Südtirol von Kunst Meran.
Es spricht für den Veranstalter, dass er im dritten und vermutlich letzten Band der Serie auch harsche Kritik übt. Nach dem Hinweis, dass etliche Bauten aus Wettbewerben hervorgegangen sind, heißt es: „Doch allein die Tatsache, dass die Landesregierung in den letzten vier Jahren keinen einzigen neuen Planungswettbewerb mehr ausgeschrieben hat, deutet darauf hin, dass Süd-tirols glänzende Architekturepoche dem verbürokratisierten Ausschreibungswesen anheimfällt und somit ihrem Ende entgegen geht.“3
Gegen diese fatale politische Tendenz wendet sich auch die Zeitschrift Turris Babel der Architekturstiftung Südtirol. Anfangs mit schmalen Heften erschienen, hat sich das Magazin im Lauf der Jahre zu Ausgaben in Buchstärke entwickelt. Jedes Heft setzt die Chronik des Südtiroler Geschehens fort. Diese Konzentration auf die eigene Region ist insofern ein Vorteil – wobei es an Stolz auf das Erreichte nicht mangelt, wie insbesondere der Titel Super Südtirol aus dem Jahr 2019 belegt.
Vier Protagonisten neuer Baukultur
Aus der Vielzahl der gegenwärtig in Südtirol tätigen Architektinnen und Architekten, die sich baukultureller Qualität verpflichtet fühlen, haben wir für dieses Heft drei Büros ausgewählt. Es sind drei Architekten und eine Architektin, die nicht nur in verschiedenen Jahrzehnten geboren wurden, sondern auch eine jeweils eigene Haltung verkörpern. Der mit seinem Büro in Neumarkt ansässige Zeno Bampi, Jahrgang 1955, darf sich als Avantgardist verstehen, weil er die heute so geschätzte „Umbaukultur“ schon zu Zeiten betrieb, als noch niemand diesen Begriff verwendete: Seine frühen Projekte stellte damals die Zeitschrift Baumeister vor (Heft 12.1983). Den „Allrounder“ Bampi porträtiert Wolfgang Bachmann in seinem farbig geschriebenen Beitrag.
Walter Angonese, geboren 1961 in Kaltern, wo er nach wie vor sein kleines Studio führt, ist ein streitbarer Kopf, der sich als „Politiker“ gern in Debatten einmischt. Ihn ärgert immer wie-der, dass es in der Südtiroler Architektenschaft so viele Opportunisten ohne selbstkritisches Bewusstsein gibt, dass sie als „Baumenschen“ unbedingt beschäftigt sein wollen. Den Ausgleich für heimische Frusterfahrungen findet Angonese als Professor an der Architekturakademie im schweizerischen Mendrisio, die er seit 2021 als Dekan leitet. Zu seinen Eigenheiten gehört auch, dass er seine Aufträge zusammen mit den jüngeren Kollegen Thomas Tschöll und Flaim Prünster Architekten realisiert.
Die Jüngsten in unserem Bunde, Gerd Bergmeister (Jahrgang 1969) und die an der Technischen Hochschule Rosenheim lehrende Michaela Wolf (Jahrgang 1979), sind ein berufliches wie privates Paar. Ihr Büro Bergmeisterwolf in Brixen ist bereits früh durch eigenwillige Lösungen aufgefallen, etwa durch das in einen Bergrücken getriebene, von außen fast unsichtbare Feuerwehrhaus in Margreid (2010). Ihr anspruchsvoller Grundsatz lautet: „Nicht an einem Ort sollst du bauen, sondern den Ort sollst du bauen.“ Die meisten ihrer Projekte haben sie in der kleinen Domstadt Brixen und ihrer Umgebung ausgeführt. In Südtirol gehen nämlich die Aufträge überwiegend an örtliche Büros. Ausnahmen wie die von den Schweizer Architekten Bischoff & Azzola entworfene Freie Universität Bozen (2002) kann man an zwei Händen abzählen.
So ist es denn mehr als bemerkenswert, dass in Brixen gleich zweimal das in Treviso beheima-tete Büro Carlana Mezzalira Pentimalli prominente Aufträge erhielt. Dabei hätten die städtebau-lichen Voraussetzungen für die 2021 vollendeten, aus Wettbewerben hervorgegangenen Gebäu-de nicht unterschiedlicher sein können. Die am Nord­rand der Altstadt angesiedelte Musikschule behauptet sich als kompakter Baukörper in einer derzeit noch stadträumlichen Wüstenei. Bei der neuen Stadtbibliothek am zentralen Domplatz hingegen handelt es sich um zwei umgebaute Bestandsgebäude, die durch einen Neubau ergänzt wurden – es ergab sich eine faszinierende Folge von unterschiedlich hohen Räumen mit mehrerenAusblicken in den öffentlichen Stadtraum.4Die-se zweifache Beauftragung „nach außen“ hat Südtirol gutgetan, auch wenn einem um die künftige Kreativität im Land selbst nicht bang sein muss.
1 Karoline Mayer, Katharina Ritter, Angelika Fitz (Hg.): Über Tourismus, Zürich 2024
2 Alfons Gruber: Der Faschismus in Südtirol, Streiflichter. Bozen 1995
3 Kunst Meran (Hg.): Neue Architektur in Südtirol 2012–2018, Zürich 2018, S. 4
4 Beide Gebäude sind dokumentiert in Daniel Reisch, Katinka Temme (Hg.): Alpine Architektur in Südtirol,
München 2023
Der Autor dankt der Klaus Kinold-Stiftung Architektur + Fotografie für die Prüfung von Bildvorlagen und die Anfertigung der Reprofotos in diesem Text.
Fakten
Architekten Barth, Othmar (1927–2010); Mayr Fingerle, Christoph (1951–2020)
aus Bauwelt 15.2024
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