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Die Seestadt Aspern in Wien ist eine Neugründung auf der grünen Wiese. Eine funktionierende Erdgeschosszone war von Anfang an Grundbedingung für das Entstehen städtischen Lebens. Daher wurde für den Handel das Prinzip einer gemanagten Einkaufsstraße eingeführt. Auch wenn sich das erfolgreiche Konzept nicht direkt als Lösung auf die Probleme kriselnder Innenstädte übertragen lässt – Anregungen für zielführende Eingriffe in das Spiel des freien Markts bietet es mehr als genug.
Text: Novotny, Maik, Wien
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Die Seestadt Aspern in Wien ist eine Neugründung auf der grünen Wiese. Eine funktionierende Erdgeschosszone war von Anfang an Grundbedingung für das Entstehen städtischen Lebens. Daher wurde für den Handel das Prinzip einer gemanagten Einkaufsstraße eingeführt. Auch wenn sich das erfolgreiche Konzept nicht direkt als Lösung auf die Probleme kriselnder Innenstädte übertragen lässt – Anregungen für zielführende Eingriffe in das Spiel des freien Markts bietet es mehr als genug.
Text: Novotny, Maik, Wien
Um rund 350.000 Einwohner ist Wien seit 2001 gewachsen, das ist mehr als Österreichs zweitgrößte Stadt Graz überhaupt Einwohner hat. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs war die lange stagnierende Stadt langsam wieder größer geworden, seit der Jahrtausendwende immer schneller. Die bisherigen planerischen Mittel, diesen Zuwachs zu integrieren und in Form zu bringen – der verdichtete Flachbau auf dem Feld, verstreute verdichtete Siedlungen – reichte nicht mehr aus.
Die Rückschau auf diese Entwicklung ist elementar, um das größte Gefäß für diese Entwicklung, die 240 Hektar große Seestadt Aspern, zu verstehen. Mehr als 20.000 Bewohner und mehrere tausend Arbeitsplätze soll sie im Endausbau aufnehmen, Stand heute sind es bereits 8000 Bewohner und 3000 Arbeitsplätze in 250 Betrieben.
Schon der Name macht deutlich: Hier geht es nicht um eine Stadterweiterung oder eine Siedlung, sondern um die Neugründung einer Stadt. Auch der im Wettbewerb siegreiche und 2007 beschlossene Masterplan von Tovatt Architects & Planners (Stockholm) ist in diesem Kontext zu verstehen. Seine eigenartige Mischung von geplanter Unordnung und Großformen wie einer Ringstraße, kombiniert mit dem im Zentrum gelegenen, wieder anders geformten See, sorgt bis heute für Diskussionen in der Fachwelt. Seitdem Ende 2014 die ersten Bewohner einzogen, zeigt sich, dass die Idee nicht so schlecht war: Gerade weil nicht an jeder Ecke eine „Geplantheit“ spürbar ist, kann sich das Alltagsleben entwickeln. Die enorme architektonische Bandbreite zwischen Vollwärmeschutz-Banalität, überambitionierter Formverspieltheit und qualitativen Lösungen mag man je nach Standpunkt als Simulation einer gewachsenen Stadt einordnen oder bedauern.
Neben dieser „Hardware“ sind es Nutzung und Freiraum, die die Idee einer Stadtneugründung auf der Tabula rasa des ehemaligen Flugfelds Aspern tragen. Die 2009 veröffentlichte „Partitur Öffentlicher Raum“ von Gehl Architects (Kopenhagen) legt verschieden programmierte metaphorische Linien durch das Gebiet. Die „rote Saite“ für die städtische Verdichtung, die „blaue Saite“ für den See und die „grüne Saite“ für Parks. Besonderes Augenmerk kam hier der Erdgeschosszone zu. „Die Rote Saite hat das Potenzial, die Lebenslinie [der Seestadt] zu werden,“ heißt es im Partitur-Handbuch von Gehl Architects. „Entlang der Roten Saite sind aktive Erdgeschossebenen ausschlaggebend, um Straßen und Plätze zu beleben. Dort sind vorzugsweise Handels- und Gewerbeeinheiten sowie andere aktive Funktionen zu platzieren.“
Eine Einkaufsstraße wie ein Shopping-Center
Die Frage, wo und wie diese Handelseinrichtungen zu platzieren sind, und vor allem, wie sie den „Kaltstart“ einer Stadtneugründung mit der zu erwartenden Durststrecke am Anfang überleben würden, wurde schon bei der Besiedelung des ersten Bauabschnitts, des „Pionierquartiers,“ angegangen. Im Sommer 2015 startete die erste gemanagte Einkaufsstraße Österreichs mit etwa 3500 Quadratmetern für Geschäfte, Lokale und Kleingewerbe. Hierfür gründete die Entwicklungsgesellschaft der Seestadt, die Wien 3420 Aspern Development AG, gemeinsam mit SES Spar European Shopping Centers die Aspern Seestadt Einkaufsstraßen GmbH. Klar war: Ein Großsupermarkt oder ein Einkaufszentrum am Rand wa-ren nicht erwünscht, stattdessen klein strukturierter Einzelhandel wie in einem gewachsenen Stadtzentrum.
Auch hier wurden Zonen eingeführt, um die Branchen zu platzieren, analog benannt zur Partitur von Gehl Architects: die „Rote Zone“ für die gemanagten Shops und die „Blaue Zone“ für die nicht gemanagten. Hier wurde, wenn man so will, das Konzept Shopping-Center mit seinem genau geplanten Mix von Frequenzbringern und -nehmern auf eine Stadt übertragen. Gerade Letzteren kam die wichtige Rolle zu, einen „Mehrwert“ für das Quartier zu schaffen, ein Angebot über die üblichen Handelsketten und Filialen hinaus.
Die Option, den Einzelhandel nur dem freien Markt zu überlassen, war angesichts der anfangs geringen Nachfrage und des Prestigeverlusts bei eventuellem Leerstand zu riskant. Eine Erleichterung auch für die gemeinnützigen Wohnbauträger, die zwar in Wien traditionell mächtige Akteure der Stadtentwicklung sind, aber bei allen Nutzungen, die nicht Wohnen sind, aufgrund des administrativen und rechtlichen Aufwands leicht nervös werden. „Sie haben auch verstanden, dass dieses Modell besser ist, als wenn ein Supermarkt zu zehn Bauträgern geht und die Miete herunterhandelt“, sagt Alexander Kopecek, Geschäftsführer der Entwicklungsgesellschaft.
Das Management übernahm daher die Mietpreisstaffelung (die Bandbreite reicht hier von reinen Betriebskosten bis zu rund 30 Euro pro Quadratmeter) sowie das Leerstandsrisiko mit einer Vermietungsgarantie überzwölf Jahre oder mehr und legte mit den Frequenzbringern eine Sortimentsverpflichtung fest. Die Gewinne werden entsprechend vertraglicher Selbstverpflichtung in die Einkaufsstraße reinvestiert, etwa zur Unterstützung kriselnder Händler (auch während der Corona-Pandemie) oder für Sonderaktionen wie Straßenfeste.
Die ersten 16 Läden eröffneten 2015, darunter in der gemanagten Zone Supermarkt, Trafik (für Nichtösterreicher: Tabak und Zeitungen), Friseur, Apotheke, Bäckerei, Schreibwaren und Drogeriemarkt sowie die erste Gastronomie, in der blauen Zone unter anderem als kultureller Pionier die Buchhandlung „Seeseiten“.
Die „Grüne Zone“: mehr als Shopping
Heute, fünf Jahre später, fällt das Resümee erfreulich aus. Leerstände und Abwanderungen wurden vermieden. Das Café ist als urban-dörflicher Treffpunkt etabliert, die Buchhandlung ein Fixpunkt, der Fahrradhändler hat sogar expandiert. Nur manche Wohnbauträger, die sich selbst um potenzielle Geschäftsmieter bemüht hatten, klagten bisweilen, dass diesen die Ladenlokale verweigert wurden, weil sie nicht in der „richtigen“ Zone für ihre Branche waren.
Die kritische Masse des Pionierquartiers erwies sich als ausreichend für die Grundversorgung, wie Alexander Kopecek im Rückblick konstatiert. „Viel weniger als diese 5000 Einwohner sollten es aber nicht sein, sonst funktioniert der Start auf der grünen Wiese nicht.“ Wie Analysen ergeben, wurden aber auch Anwohner der umliegenden Wohngebiete zu Geschäftskunden der Seestadt, insbesondere die Gastronomie fungierte hier als Magnet.
Seit 2019 erfolgt die Besiedlung des zweiten. Bauabschnitts, des Seeparkquartiers direkt an der U-Bahn-Station. Hier war von vornherein eine Mischung von Wohnen und Arbeiten konzipiert, und auch die gemanagte Einkaufsstraße wurde diesbezüglich ergänzt. Neben einem zweiten Supermarkt, weiterer Gastronomie und Einzelhandel wurden auch die Erdgeschosse der beiden Hochgaragen mit nutzungsoffenen Räumen programmiert, die für Veranstaltungen gemietet werden können.
Eine wesentliche Erweiterung der gemanagten Einkaufsstraße war die Einführung einer „Grünen Zone“ für „sozial-kulturelle Impulsräume,“ das heißt, jegliche Art „weicher“ Nutzungen. Die Unterversorgung mit kulturellen Einrichtungen nicht nur in der Seestadt, sondern in allen Stadtentwicklungsgebieten nördlich der Donau war in Wien immer wieder kritisiert worden. Die seit 2018 amtierende Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler will mit ihrem Konzept der „Stadtlabore“ explizit den Stadtrand stärken, die „grüne Zone“ der Seestadt kann als Beitrag zu einer Umsetzung gesehen werden. Zunächst im kleineren, informellen Rahmen durch die Bereitstellung nutzungsoffener Räume, im dritten Bauabschnitt, dem Quartier Am Seebogen (Baubeginn Frühjahr 2019) wird dann eine „Kulturgarage“ entstehen, die ein breiteres Programm ermöglicht.
Lernen von Aspern
Wie gelungen das in Aspern erstmals erprobte Modell der gemanagten Einkaufsstraße ist, lässt sich auch im Vergleich mit zwei anderen Wiener Stadtentwicklungsgebieten bestimmen. Zum einen das Nordbahnhofviertel auf einem ehemaligen Bahnareal: Hier orientierte man sich schon im städtebaulichen Konzept am Seestadt-Model, die eigens gegründete Nordbahnviertel Service GmbH mietet sämtliche Geschäfte an und vermietet sie weiter, darunter auch sogenannte „Flex-Spaces“, Kleineinheiten bis zu 40 Quadratmetern. Allerdings besteht hier aufgrund der zentraleren Lage und der Nähe zu bestehenden Quartieren auch ein geringeres Risiko des Kaltstarts im Niemandsland.
Ebenfalls auf ehemaligen Bahngründen und mit viel Ambitionen ausgestattet ist der zweite Abschnitt des Sonnwendviertels beim Hauptbahnhof. Hier wurden die relativ kleinen Bauplätze nach unterschiedlichen Modi vergeben, für die Quartiershäuser wurden für Wien damals neuartige Konzeptverfahren durchgeführt. Darin enthalten war auch ein verpflichtendes Programm für die Erdgeschosszone inklusive der Nutzer. Rund die Hälfte des Quartiers ist inzwischen bezogen. Für das Gesamtkonzept gab es reichlich berechtigtes Lob, da hier aufgrund der kleinen Bauplätze nicht wie sonst nur die großen Wohnbauträger, sondern auch Baugruppen und Genossenschaften zum Zuge kamen.
Allerdings hatten ausgerechnet die Erdgeschosszonen deutliche Startschwierigkeiten: Trotz der attraktiven Flat-Rate-Miete von 4 Euro pro Quadratmeter sprangen viele der ursprünglichen Nutzer für die kleinen Ladeneinheiten während der Planungs- und Bauphase wieder ab, die für viele Kleinunternehmer zu lange dauerte. Mit viel Eigeninitiative gelang hier zwar die Korrektur, doch machten einige der Beteiligten deutlich, dass man sich hier ein zentrales Management wie in Aspern gewünscht hätte.
Wie übertragbar – etwa auch auf gewachsene Innenstädte – ist das Modell Aspern? An Nachfragen von Interessenten herrsche jedenfalls kein Mangel, vermeldet Alexander Kopecek. Wesentliche Grundregeln seien der richtige Mix von Frequenzbringern und Frequenznehmern sowie die Erfüllung der Bedürfnisse von Bewohnern, Betreibern und Bauträgern: ein guter Branchenmix, ein guter Umsatz ohne gefährdende Konkurrenz und die Vermeidung von Leerstand. Wenn die Seestadt vollständig fertig ist (das momentane Zieljahr ist 2034), soll die Einkaufsstraße übrigens sukzessive sich selbst, beziehungsweise den Bauträgern, überlassen werden.
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