Stadtplanung 4.0
Die Stadtplanung muss sich dringend verändern, wenn Stadtplaner weiterhin Stadtgestalter bleiben wollen. Unsere Autoren fordern eine integrale Planung.
Text: Mösle, Peter, Stuttgart; Grassl, Gregor, Stuttgart
Stadtplanung 4.0
Die Stadtplanung muss sich dringend verändern, wenn Stadtplaner weiterhin Stadtgestalter bleiben wollen. Unsere Autoren fordern eine integrale Planung.
Text: Mösle, Peter, Stuttgart; Grassl, Gregor, Stuttgart
Die Zukunft der Menschheit liegt in den Städten. Prognosen zufolge werden im Jahr 2050 etwa 6,4 Milliarden Menschen in Städten leben – auf der Suche nach Arbeit, einem breiten Bildungs- und Kulturangebot und einem generellen Streben nach höherer Lebensqualität. Das ist nicht nur für den urbanen Raum ein enormer Belastungstest, sondern auch eine gewaltige Herausforderung für die heutige und zukünftige Stadtplanung. Hinzu kommt die stärkere Vermischung der verschiedenen Lebensbereiche wie Wohnen, Arbeiten und Freizeit sowie Phänomene wie Carsharing, E-Mobility oder autonomes Fahren, die ein Umdenken und neuartige Ansätze für die Flächennutzung erfordern. Die digitale Transformation führt zu neuen Möglichkeiten, Geschäftsmodellen und Tools wie CityBIM, die einerseits die Stadtplanung erleichtern und gleichzeitig neue Anforderungen stellen. Das Thema Nachhaltigkeit nimmt neue Dimensionen an: Im Fokus steht die Reduzierung der Stadt-Vermüllung und das Denken in Kreisläufen und Konzepten wie Cradle to Cradle (C2C), bei denen Städte als Rohstofflager betrachtet werden.
Auch wenn die Verstädterung in Deutschland und Europa bereits weitgehend abgeschlossen ist, fordern diese Veränderungen Lösungen und rasche Handlungen. Der Umbau der Städte mit ihrer Infrastruktur wird eine wesentliche Herausforderung des aktuellen Jahrhunderts sein. Vor diesem Hintergrund müssen sich Städte und Stadtplaner fragen: Wer gestaltet die Stadt von morgen? Sind es weiterhin die Stadtplaner oder sind es vielleicht heute schon die großen Technologie- und Industriekonzernen wie Google und Amazon. Wem gehören die Daten, die die Stadt erzeugt und was ist das menschliche Maß für ihre Verwendung? Wie viel digital ist sinnvoll und was ist erträglich?
Die Stadtplanung im Dornröschenschlaf
Blickt man auf die aktuelle Situation in Deutschland, scheint das alles eine unlösbare Aufgabe zu sein. Kein Wunder, die Stadt- und Quartiersplanung hierzulande funktioniert heute noch wie in den 1970er Jahren: Die Besetzung der Planungsaufgaben erfolgt hauptsächlich durch Stadtplaner, Freiraumplaner und Verkehrsplaner. Es scheint, als ob wir weiterhin Städte für Autos planen statt für zukunftsfähige Mobilität, als ob die technische Versorgung mit Energie, Wasser und Nahrung ausschließlich von außen kommt statt ebenso aus dezentralen und urbanen Lösungen. Dekarbonisierung und Kreislauffähigkeit scheinen keine neuen Kompetenzen zu verlangen und die digitale Vernetzung keine neue Fachdisziplin zu sein. Eine integrale Planung gehört weder zum Selbstverständnis in den Projektteams, noch zum festen Bestandteil der Ausschreibungen und Standardabläufe der Stadtbauämter. Fest steht: Die Stadtplanung hat hier 40 Jahre Weiterentwicklung in Zusammenarbeitsmodellen verschlafen.
Nimmt man zum Vergleich die Entwicklung der Planungskultur im Hochbau, lässt sich feststellen, dass die integrale Planung hier in den 1990er Jahren begonnen und sich sukzessive den neuen Anforderungen angepasst hat. Die ersten planerischen Interaktionen zwischen Architekten und Fachplanern aus der Bauphysik, der Tragwerksplanung und der technischen Ausrüstung begannen hier mit der ersten Wärmeschutzverordnung der 1970er. In den folgenden zwei Jahrzehnten etablierte sich die integrale Planung im Hochbau immer mehr und erweiterte sich um zusätzliche Kompetenzen. Um die Jahrtausendwende rückte das Thema Energie noch weiter in den Fokus und zehn Jahre später folgten die Nachhaltigkeitsexperten mit den Systemen zur Messung und Bewertung von Nachhaltigkeit zum Beispiel nach der Vorgabe der DGNB-Standards.
Heute ist es selbstverständlich, dass der Architekt mit den Fachplanern aus verschiedenen Gewerken sowie Experten aus der Kreislaufwirtschaft und Digitalisierung von Beginn an eng zusammenarbeitet. Leider begrenzt sich dieses Vorgehen überwiegend auf den Hochbau. Auch wenn einige Beispiele zeigen, dass eine enge Interaktion sowie eine gemeinsame Entwicklung und Umgestaltung der Quartiere und ganzer Städte möglich ist, sind sie hierzulande noch Mangelware.
Stadtplaner als Dirigent
Um diesen vielfältigen und teilweise komplexen Herausforderungen erfolgreich zu begegnen, ist für die Stadtplanung daher eine integrale Planung notwendig – und zwar in der vierten Dimension. Themen wie Nachhaltigkeit, Circular Economy und Digitalisierung müssen heute genauso bedacht werden wie auch der demografische Wandel, der urbane Komfort oder die zukünftige Mobilität. Um diese Wechselwirkungen in Einklang zu bringen und zu vernetzen, bedarf es einer integralen Stadtplanung 4.0. Diese beinhaltet neben dem Masterplan des Stadtplaners auch einen technischen Masterplan der notwendigen technischen Medien wie Logistik und Abfall, Mobilität und Infrastruktur sowie Energie- und Wasserversorgung. Die Grundlage für eine zukunftsfähige Stadtentwicklung bildet dabei ein frühzeitiges, vernetztes und interdisziplinäres Zusammenarbeitsmodell mit allen notwendigen Expertisen – sprich der Stadtplaner führt ein Team aus einzelnen Disziplinen – genauso wie der Dirigent sein Orchester.
Der Masterplan 4.0 besteht damit aus zwei integrativen Teilen: dem bisherigen Masterplan des Stadtplaners und dem technischen Masterplan. Nur durch beide Teile ergibt sich ein ganzheitliches, gewerkeübergreifendes Planungskonzept für Stadtentwicklungen und -transformationen für unsere nächsten Generationen. Ein spezialisiertes, interdisziplinäres Expertenteam kann dabei den Stadtplaner einerseits bei der Entwicklung des technischen Masterplans und anderseits bei seiner Integration in den bisherigen Masterplan des Stadtplaners unterstützen.
Vorreiter
Es gibt bereits Vorreiter, die zeigen, dass eine integrale Stadtplanung durchaus machbar ist. Im hessischen Bad Vilbel wird derzeit Europas größtes Innovationsquartier realisiert. Das Projekt „SpringPark Valley“ soll bis 2024 umgesetzt werden und sieht einen flexiblen Innovationscampus mit Büro- und Wohnwelten der Zukunft, unterschiedlichen Themen-Domes und eine Vielzahl an 24/7-Angeboten vor. Von digitalen Concierge-Services, 5G-Highspeed WLAN-Verbindungen über Desksharing auf Quartiersebene bis hin zu Flugtaxis – das SpringPark Valley soll in jeder Hinsicht zukunftsweisend werden. Von Beginn des Projekts an stand für die Bauherrin, die CESA Spring Park GmbH ein technischer Masterplan im Fokus, welcher die unterschiedlichsten Themen von Energie über Mobilität und Infrastruktur bis hin zu Cradle to Cradle und Space Syntax berücksichtigt. Auch Experten für ICT (Information and Communications Technology) wurden frühzeitig in das Projekt eingebunden. Ihr Ziel: durch die Integration eines sogenannten „Brains“ eine übergeordnete, intelligente Vernetzung der Gebäude und der technischen Anlagen im Quartier zu ermöglichen.
Ein weiteres Vorzeigeprojekt, „Berlin TXL - The Urban Tech Republic“, wird von der Tegel Projekt GmbH realisiert. Geplant ist, auf der Fläche des Flughafens Berlin-Tegel nach dessen Schließung einen Industrie- und Forschungspark für urbane Technologien zu realisieren. Für dieses Stadtentwicklungsprojekt hat die Bauherrin ein neuartiges Infrastruktur- und Energiekonzept ausgeschrieben. Die beauftragten Experten sollten alle notwendigen Infrastrukturen ganzheitlich betrachten, Synergien zwischen einzelnen Medien analysieren und ein innovatives Konzept erarbeiten. Das Ergebnis: ein Quartierskonzept, das ökologische, ökonomische und soziale Aspekte vereint und den Grundstein für eine tragfähige und integrale Stadtentwicklung bildet.
Solche Projekte werden derzeit noch häufig von privaten Entwicklern oder städtischen Entwicklungsgesellschaften vorangetrieben. Aber auch für Städte und ihre Stadtplaner ist jetzt die höchste Zeit, umzudenken und sich neu aufzustellen. Denn in einem Zeitalter, in dem sich alles immer schneller entwickelt und verändert, ist Verharren oder vorsichtiges Herantasten keine Option mehr.
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