Ist Venedig noch zu retten?
Was müsste geschehen, damit in Zukunft wenigstens die Chance besteht, dass so etwas wie echtes Stadtleben nach Venedig zurückkehrt?
Text: Kusch, Clemens F., Venedig
Ist Venedig noch zu retten?
Was müsste geschehen, damit in Zukunft wenigstens die Chance besteht, dass so etwas wie echtes Stadtleben nach Venedig zurückkehrt?
Text: Kusch, Clemens F., Venedig
Im Schaufenster der Apotheke Morelli am Campo San Bartolomeo, direkt am Fuße der Rialtobrücke, ist ein Leuchtschild aufgestellt. Es ist mit dem Einwohnermeldeamt verbunden und zeigt in Echtzeit die offiziell gemeldeten Einwohner der Altstadt an: Am 21. März 2019 waren es 52.981. Als das Leuchtschild vor elf Jahren aufgestellt wurde, waren es noch 60.704. Das heißt: Im Durchschnitt haben mehr als 700 Einwohner pro Jahr die Stadt verlassen. In der Nachkriegszeit hatte Venedig mit über 174.000 (1951) sogar mehr als dreimal so viel Einwohner wie heute.
Der sinkenden Einwohnerzahl steht eine beständig wachsende Zahl an Touristen gegenüber. Nach offiziellen Angaben der Stadt (Annuario del Turismo 2017) gab es im Jahr 2017 in der Altstadt 3.155.548 Besucher mit insgesamt 7.892.292 Übernachtungen. Rechnet man die Touristen hinzu, die auf dem Lido oder dem Festland übernachteten – und die sicher auch Venedig besuchten –, dann steigen die Zahlen auf 5.034.882 Besucher und 11.685.819 Übernachtungen. Wenn man darüber hinaus die Übernachtungen in nicht erfassten Herbergen addiert und dazu die Tagestouristen, die nicht in Venedig übernachten, kommt man schnell auf eine Zahl von über 20 Millionen Besucher. Das bedeutet, dass sich im Durchschnitt an jedem Tag des Jahres weitaus mehr Touristen als Venezianer in der Stadt aufhalten. 73,8 Besucher pro Einwohner – dieses Verhältnis bringt Vene-dig laut einer Airbnb-Untersuchung von „Healthy Travel and Healthy Destinations“ den Spitzenplatz. In der Untersuchung des Instituts Roland Berger „Protecting your city from Overtourism. European city tourism study 2018“ wird Venedig in der Kategorie „Under Pressure“ aufgeführt, die neben hohen Einträgen durch ein unverhältnismäßiges Verhältnis zwischen Bewohnern und Besuchern gekennzeichnet ist.
Bevor der letzte Venezianer die Stadt verlässt
Venedig ist schon seit Jahrhunderten eine einzigartige Attraktion und wohl eines der wenigen Ziele, die für alle Kategorien von Touristen attraktiv sind: von den Millionären, die sich eine Übernachtung in einem der Luxushotels für 1000 Euro und mehr pro Nacht leisten können, über die Kulturtouristen, die besonders zur Biennale über die Stadt herfallen, bis zu den Tagestouristen aus aller Welt, die sich in den Kopf gesetzt haben, Venedig müsse man einmal im Leben „live“ gesehen haben. Das Problem ist nicht der Tourismus an sich, sondern eben das völlig aus der Waage geratene Verhältnis von Einwohnern und Besuchern. Jede Maßnahme, den Tourismus zu reglementieren, sollte daher parallel mit jeder möglichen Förderung und Unterstützung begleitet werden, dauerhafte Bewohner nach Venedig zurückzubekommen, um auf diese Weise die Entwicklung zu einer reinen Vergnügungsstätte aufzuhalten.
Der steigende Tourismus in Venedig liegt ganz im Trend der globalisierten Welt. Aber obwohl man die Gefahren kennt, die der Massentourismus mit sich bringt, hat die Stadt in den letzten Jahren keinerlei Maßnahmen getroffen, um sich dieser Entwicklung entgegenzustellen und das Weltkulturerbe und seine ursprünglichen Bewohner und Traditionen in geeigneter Form zu schützen. Ganz im Gegenteil: Man hat den Trend gefördert, indem man zum Beispiel vor rund zwanzig Jahren die Möglichkeit eröffnete, in Privatwohnungen Unterkünfte als Bed & Breakfast anzubieten. Das sollte weniger wohlhabenden Besuchern eine Alternative zu den teuren Hotels bieten. Die guten Vorsätze erwiesen sich aber sehr bald als Fehleinschätzung: Immer mehr Wohnungen sind in Herbergen umgewandelt worden, ohne dass die Einwohner die Wohnungen mit den Besuchern teilen. Außerdem wurden immer mehr Wohnhäuser in Hotels umgewandelt. Die Immobilienpreise sind gestiegen, die ursprünglichen Einwohner wurden aufs Festland verdrängt. Das Angebot an Läden und Gaststätten hat sich entsprechend der Nachfrage angepasst.
Man kann tagtäglich beobachten, wie sich der Handel in der Stadt verändert: Wo immer ein Laden schließt, der etwas für den täglichen Bedarf der Einwohner anbot, wird der ersetzt durch ein Café, ein Restaurant, eine Pizzeria, eine Wein- und Spritzbar, einen Masken- oder Souvenirladen. Hinzu kommen große Kaufhäuser wie das kürzlich eröffnete Fondaco dei Tedeschi, eine Attraktion besonders für asiatische Touristen, die dorthin geschleust werden und dann – quasi als Nebenattraktion – auch noch die Stadt besuchen können (Bauwelt 39.2016). Die Stadtverwaltung unternimmt kaum etwas, um wenigstens traditionsreiche Handwerkerstätten oder historische Läden vor der Schließung und Umnutzung zu schützen.
In den letzten Jahren beständig gestiegen ist außerdem die Zahl der Kreuzfahrtpassagiere, die ganz entscheidend zum verzerrtem Bild der Stadt beitragen. Vergangenes Jahr sollen die Kreuzfahrtschiffe über 500 Mal den Weg über den Canale della Giudecca bis zum Passagierhafen am westlichen Ende der Insel eingeschlagen haben. Bei der Durchfahrt genießen die Passgiere einen einzigartigen Ausblick auf die Dachlandschaft und den Markusplatz, aber den Wenigsten ist dabei bewusst, dass die Schiffe eine wirkliche Bedrohung für die Stadt und einen wesentlichen Beitrag zur Umweltverschmutzung darstellen. Es wurden verschiedene Studien für Alternativen ausgearbeitet, die jedoch weder die Arbeitsplätze im Hafen noch die Einnahmen der Hafenbehörde gefährden sollten. Ein Passagierhafen im offenen Meer – um dann die Kreuzfahrer mit kleine-ren Booten nach Venedig zu transportieren – oder die Verlegung des Hafens in das Industriegebiet Marghera sind zwei der Vorschläge. Von einer Umsetzung sind sie jedoch weit entfernt, so dass uns die bekannten Bilder von Schiffen, die, alle Häuser überragend, wie unproportionierte Monster durch die Stadt ziehen, auf absehbare Zeit erhalten bleiben werden.
Ein weiterer Problemfall ist das Projekt MOSE. Der Bau von Absperrungen zum offenen Meer, die Venedig zukünftig vor dem Hochwasser schützen sollen, hat inzwischen über 5,5 Milliarden Euro verschlungen. Das Vorhaben ist nicht nur immer noch nicht fertiggestellt, sondern es tauchen auch immerzu neue Schwierigkeiten auf, so dass inzwischen bezweifelt wird, dass es jemals in Betrieb gehen wird. Eine Menge Geld wurde investiert, das für die Stadt vermutlich besser und effizienter hätte eingesetzt werden können.
Der Tourismus wird in den nächsten Jahren zusätzlichen Aufschwung erfahren, denn gerade entstehen mehrere Hundert Low-Cost-Hotelbetten direkt am Bahnhof der Vorstadt Mestre. Weitere Hotels sind im Industriegebiet Marghera geplant, dort wo der Modeschöpfer Pierre Cardin sich mit einem glücklicherweise nicht weiterverfolgten Hochhausprojekt verewigen wollte (Bauwelt 40–41.2012). Auch die Bewohner all dieser Hotels werden natürlich die Altstadt besuchen wollen, da die Vorstadt eben nur eine Vorstadt ist, mit keinerlei touristischen Attraktionen, ausgenommen vom kürzlich eingeweihten Kunstmuseum M9 (Bauwelt 1.2019).
Im vergangenen Frühjahr hat die Stadtverwaltung eine aufsehenerregende Maßnahme getroffen, die jedoch eher ein Medien-Ereignis war, als ein seriöser Versuch, den Tourismus zu reglementieren: Am Bahnhof Santa Lucia und am Busbahnhof Piazzale Roma wurden provisorische Absperrungen eingebaut, die bei Hochbetrieb nur von den Einwohnern Venedigs passiert werden durften. Die Wirkung war gleich Null, da der Touristenfluss nicht aufgehalten, sondern lediglich umgeleitet wurde: Die Besucher konnten irgendeinen anderen Weg ohne Absperrungen einschlagen.
Nun hat sich die Stadt etwas Neues ausgedacht, das möglich wurde, nachdem die Zentralregierung in Rom im letzten Haushaltsgesetz den Stadtverwaltungen des Landes die Möglichkeit eröffnet hat, unter gewissen Bedingungen unabhängig Steuern einzuholen. Ab 1. September dieses Jahres soll jeder Venedig-Besucher 3 Euro Eintritt zahlen. Natürlich werden all diejenigen, die in Venedig einen ständigen Wohnsitz haben, in Venedig geboren sind, in Venedig arbeiten, eine Schule oder Universität besuchen oder Verwandte besuchen, davon ausgenommen sein. Ebenfalls ausgenommen ist, wer ein Hotel gebucht habt, da er damit ohnehin schon eine Gästesteuer entrichtet. Nach einer Probephase wird der Betrag ab dem 1. Januar 2020 auf 6 Euro steigen; zu Hochzeiten soll es möglich sein, den Venedig-Eintritt auf bis zu 10 Euro zu erhöhen.
Die Zahlung soll nicht etwa an Kassenschaltern an den Zugängen und Zufahrten zur Stadt erfolgen, sondern sie soll über die Betreiber der diversen Transportmittel eingezogen werden. In erster Linie werden das die Bahngesellschaften sein sowie die Betreiber der Kreuzfahrtschiffe, der Touristenbusse und –schiffe und der Parkhäuser. Wie das praktisch erfolgen wird, ist noch nicht völlig geklärt. Während man annehmen kann, dass alle Kreuzfahrtschiffpassagiere Touristen sind – denen die 3 Euro oder auch 10 Euro nicht groß etwas ausmachen werden –, wird es bei den Bahnfahrern sicher schwieriger zu unterscheiden sein, wer verpflichtet ist, den Eintritt zu zahlen und wer nicht. Bislang heißt es, dass man einfach durch eine Eigenerklärung werde bestätigen können, zu den ausgenommenen Kategorien zu gehören.
Ob diese Maßnahme die Touristenströme aufhalten wird, ist fraglich. Zweifellos wird dadurch frisches Geld in die leere Stadtkasse fließen, aber wie dies dann genau eingesetzt wird, ist noch offen. Eine Maßnahme, die ausschließlich versucht den Touristenfluss zu bremsen, wird die Entwicklung der Stadt zu einem Freilichtmuseum auch nicht stoppen – wenn nicht parallel dazu die Bedingungen geschaffen werden, den Trend der Entvölkerung aufzuhalten. Selbstverständlich können die zusätzlichen Mittel aus dem Eintrittsgeld die Venezianer entlasten, etwa bei den Kosten für die Müllabfuhr, den öffentlichen Verkehr, die Immobiliensteuern. Doch das reicht nicht aus, wenn nicht konkrete politische Entscheidungen getroffen werden, wie zum Beispiel: keine Genehmigung mehr für neue Hotels, eine wirkliche Kontrolle der bestehenden Airbnb-Unterkünfte, Steuerentlastungen für Einwohner und all diejenigen, die Arbeitsplätze außerhalb des Tourismus schaffen. Besonders könnte Venedig attraktiv werden für „immaterielle“ Produktion und als repräsentativer Sitz internationaler Institutionen, Forschungsstätten und privater Unternehmen.
In diesem Sinn wurde im März dieses Jahres eine Initiative im europäischen Parlament vorgestellt. Cecile Kyenge, europäische Abgeordnete, Andrea Martini, der Vorsitzende der Verwaltung des Stadtgebiets Venedig Altstadt, Murano und Burano, und der Architekt Sergio Pascolo haben eine andere Zukunft für die Stadt skizziert und Venedig als Kandidat für die„European Green Capital“ ins Spiel gebracht. In Anlehnung an diese Initiative hat eine Gruppe von venezianischen Bürgern und Architekten einen möglichen „Dekalog zur Wiederbevölkerung“ formuliert, der Venedigs Zukunft nicht allein im Tourismus sieht. Nur auf diese Weise wäre es möglich, der Stadt ein neues Leben zu geben – ein neues Leben, in dem Touristen und Einwohner gemeinsam diese einzigartige Stadt genießen.
Dekalog für die Wiederbevölkerung Venedigs
10 Vorschläge um den Trend der Entvölkerung zu unterbrechen
1. Miet- und Steuervorteile schaffen für die in Venedig arbeitende und wohnende Bevölkerung und für diejenigen, die nach Venedig ziehen wollen; insbesondere Steuervorteile für junge Paare und Studenten
2. Schutz von traditionellen Handwerkern, Läden, Bars und Restaurants, indem zum Beispiel Nutzungsänderungen unterbunden und für den Bestand Mietvorteile geschaffen werden
3. Keine weiteren Genehmigungen für neue Hotels, B&B, Bars, Restaurants, Souvenirläden und Supermärkte
4. Strenge Kontrolle der bestehenden Touristen-Wohnungen. Kontrolle der Versteuerung der Mieten, Begrenzung der Anzahl der Ferienwohnungen in einem Eigentum
5. Immobilien im Eigentum der Stadt und der Kirche zur Verfügung stellen für Niederlassungen von internationalen Firmen, die Arbeitsplätze schaffen, für Kultureinrichtungen, für Universitäten und Forschungsinstitute oder für den Sitz internationaler Institutionen
6. Vorteile für Handwerker und Künstler, die in Venedig arbeiten oder arbeiten wollen. Förderung von Geschäften, die nicht eng an den Tourismus gebunden sind (Buchhandlungen, Galerien, lokales Handwerk, u.ä.)
7. Kostenlose Nutzung von Transportmitteln für in Venedig Ansässige
8. Steuervorteile und Finanzierungshilfen für Restaurierungen in der Altstadt. Hohe Steuern auf leer stehende Häuser und Wohnungen
9. Ökologische Maßnahmen zur Reduktion von Emissionen, Abgasen und Abfall
10. Anzahl der Kreuzfahrtschiffe reduzieren und den Hafen aufs Festland verlegen
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