Bauwelt

Verschluckt

Als der Müllschlucker Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde, war die Begeisterung groß. Nach einem zweiten Boom in den Fünfziger- und Sechzigerjahren steht die Abwurfanlage heute in der Kritik. In einigen Bundesländern ist sie inzwischen verboten.

Text: Crone, Benedikt, Berlin

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    Müllschacht in einem Wohnhaus in Russland
    Foto: Olga Sapegina/Alamy

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Verschluckt

Als der Müllschlucker Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde, war die Begeisterung groß. Nach einem zweiten Boom in den Fünfziger- und Sechzigerjahren steht die Abwurfanlage heute in der Kritik. In einigen Bundesländern ist sie inzwischen verboten.

Text: Crone, Benedikt, Berlin

Verheißungsvoll ist diese Erfindung, verkörpert sie doch das alte Versprechen der Moderne, das Komfort ein Menschenrecht ist. Ein Recht, das uns die Technik zu gewährleisten hat. Die Müllabwurfanlage, im Volksmund Müllschlucker genannt, ist ein spätes Kind der Urbanisierung Europas und Amerikas, als die Häuser Geschosshöhen erreichten, die das Schleppen von Abfall endgültig zur Last werden ließen. Auch die gestiegene Sensibilität in Hygienefragen konnte das System bedienen. Nicht zuletzt verschwindet das große Laster des Konsumzeitalters – der Abfall – in Kürze aus den Augen und aus dem Sinn. Das Prinzip ist einfach: Durch eine verschließbare Einwurfklappe in der Wohnung oder im Treppenhaus werden Müllbeutel in einen vertikalen Metallschacht geworfen. Der Schacht mündet in einem Raum im Unter- oder Erdgeschoss, wo die gesammelte Ladung dann aus dem Haus gebracht und abgeholt werden kann. Auch wenn dem schwedischen Architekten Sven Adolf Wallander häufig die Erfindung der Anlage in den 1920er Jahren zugeschrieben wird – das System fand in Skandinavien, den USA und den Sowjetstaaten große Verbreitung –, sind für Deutschland bereits angemeldete Patente in den Jahren 1912 und 1913 vermerkt.
Mit dem vermehrten Bau von Hochhäusern und Großsiedlungen in den Fünfziger- bis Siebzigerjahren wuchs der Bedarf an Abwurfanlagen. Auch in Le Corbusiers Wohnmaschinen wie der Cité Radieuse in Marseille durfte ein in die Küche integrierter Müllschlucker nicht fehlen. Während der DDR fanden moderne Müllschächte ihren Einzug über den Plattenbautyp P2. Beim Münchner Olympiadorf wurden die Schächte mit einer pneumatischen Abfallsauganlage kombiniert, die den Müll zu Sammelstellen transportierten – die Anlage wurde 2019 stillgelegt.
Heute stehen die Anlagen aus mehreren Gründen in der Kritik. Mit der Einführung der Mülltrennung in den Achtzigerjahren war die Technik überholt, da aller Abfall oft in den gleichen Schacht geworfen wird. Müllschlucker können zudem verstopfen, wenn sperrige Gegenstände entsorgt werden, was die Anonymität der Einwurfssituation begünstigt. Bleibt Abfall im Schacht hängen oder wird der Sammelbehälter nicht regelmäßig geleert, können sich Schädlinge einnisten und Gerüche verbreiten. Auch ist die Abholung teurer, da die Behälter in der Regel schwerer sind und nicht kompatibel mit den standardisierten Wagen der kommunalen Müllabfuhr. Vor allem stellen die Abwurfanlagen ein Brandschutzproblem dar. Müll ist immer ein potenzieller Brandherd, durch die Schächte können sich Flammen und Rauch besonders schnell im Haus verbreiten. Die Musterhochhausrichtlinie der Bauministerkonferenz von 2008 formulierte daher erstmals: „Abfallschächte sind unzulässig.“
In Bayern, Brandenburg, Bremen und dem Saarland sind Müllabwurfanlagen inzwischen gänzlich verboten. Schleswig-Holstein verbietet ihren Einbau in Wohngebäuden. In Nordrhein-Westfalen und Berlin können bestehende Schächte nur dann weiter genutzt werden, wenn abfallrechtliche Trennpflichten und brandschutzrechtliche Belange gewährleistet sind. Ein 2010 unternommener Versuch des Berliner Senats, Abwurfanlagen vollständig stillzulegen, scheiterte an einer Petition der Nutzerinnen und Nutzer. Dennoch sinkt die Zahl der Anlagen auch in der Hauptstadt: Stand 2019 waren stadtweit noch 2200 in Betrieb, gut zehn Jahre zuvor waren es rund doppelt so viele gewesen. Bei aller Bequemlichkeit ist nicht zu vergessen: Die höheren Kosten der Abfallentsorgung werden in der Regel auf die Miete umgelegt.

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