Bauwelt

Wir haben ihn als den genommen, der er war

Der Dokumentarfilm „The Mies van der Rohes“ von Sabine Gisiger

Text: Jouhar, Jasmin, Berlin

Wir haben ihn als den genommen, der er war

Der Dokumentarfilm „The Mies van der Rohes“ von Sabine Gisiger

Text: Jouhar, Jasmin, Berlin

Um falsche Erwartungen gar nicht erst aufkommen zu lassen: „The Mies van der Rohes“ ist kein Architekturfilm. Gebäude kommen lediglich am Rand vor in der neuen Dokumentation der Schweizer Regisseurin Sabine Gisiger. Auch Mies’ Bedeutung für die Architektur der Moderne scheint nur gelegentlich auf, etwa im Zusammenhang mit dem Bauhaus oder der Weißenhofsiedlung. Im Mittelpunkt stehen die Frauen um ihn herum, vor allem seine Tochter Georgia van der Rohe (1914–2008), ihre Schwestern Manna und Traudel sowie Ehefrau Ada. Auch seine spätere Arbeits- und Lebenspartnerin Lilly Reich hat ihren Auftritt. Der knapp 80-minütige Film erzählt chronologisch aus ihren Leben vom Anfang bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, mithilfe von Briefen, Archivmaterial und der Autobiografie Georgia van der Rohes als Quellen.
Und doch kommen die Zuschauerinnen und Zuschauer dem Architekten ungewöhnlich nahe – etwa durch bislang unveröffentlichte Privat­fotos, die ihn auf der Parkbank mit seiner großbürgerlichen Verlobten Ada Bruhn oder beim Herumtollen mit Tochter Georgia zeigen. Gisiger zitiert aus einem Brief an Ada aus der Verlobungszeit, in dem er die gemeinsame Zukunft beschwört, die jedoch nur wenige Jahre dauern sollte. „Mies war nicht direkt ein Familienmensch“, wie Georgia van der Rohe 1985 bei einem Gespräch an Mies’ ehemaliger Hochschule, dem Illinois Institute of Technology in Chicago, sagte. Auf der zeitgenössischen Tonaufnahme hört man Lachen aus dem Publikum. Im Gegenteil: Im Film wirkt der Architekt wie jemand, der keine langfristige Bindung eingehen will oder kann. Die drei Töchter wachsen praktisch ohne Vater auf, weil der lieber im Restaurant am Wannsee Hof hält oder seine Geliebte zum Tanz in Werder in der Nähe von Potsdam trifft. Ehefrau Ada stilisiert sein Verhalten in Briefen verzweifelt zur Freiheit des Künstlers, die sie ihm als moderne Frau gewähren will. Später ist sie in psychiatrischer Behandlung, denkt über Selbstmord nach. Die größte Demütigung: Über die finanzielle Versorgung der Familie muss sie mit Lilly Reich verhandeln, Mies hält sich raus. Doch Reich wird der Architekt wenige Jahre später ebenfalls zurücklassen. Als sie ihm in die Emigration nach Chicago folgt, schickt er sie zurück, um finanzielle Fragen und Urheberrechtsstreitigkeiten zu regeln. Reich beklagt sich, dass er ihr so selten schreibt. Sie sehen sich nie wieder, Reich stirbt 1947 in Berlin. Das von ihr entworfene Tagesbett überarbeitet der Architekt in den 1950er-Jahren für den Hersteller Knoll – der es als „Barcelona“-Daybed bis heute ausschließlich unter Mies’ Namen vermarktet.
Nur Tochter Georgia scheint im übergroßen Schatten des berühmten Vaters zurechtgekommen zu sein. Sie führte ein bewegtes Leben als Tänzerin, Schauspielerin und Regisseurin und trägt zugleich als Figur die Erzählung des Films: Sabine Gisiger inszenierte eine fiktive Interviewsituation, in der Schauspielerin Katharina Thalbach Georgia verkörpert. Die Antworten hat Gisiger aus van der Rohes Schriften entnommen. Thalbach verleiht der Figur eine herzliche und robuste Ausstrahlung, illusionslos, was den berühmten Vater angeht und ihm zugleich ohne Groll zugetan: „Wir haben ihn als den genommen, der er war.“

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