Ein Modernelabor?
Von Giga-Projekten, Salmani-Architektur und deutschen Planern in Saudi-Arabien
Text: Brensing, Christian, Berlin
Ein Modernelabor?
Von Giga-Projekten, Salmani-Architektur und deutschen Planern in Saudi-Arabien
Text: Brensing, Christian, Berlin
Das Königreich Saudi-Arabien durchläuft seit einigen Jahren einen gewaltigen Transformations- und Modernisierungsprozess. Insbesondere seit Mohammed bin Salman – allgemein bekannt als MBS – 2017 von seinem Vater König Salman zum Kronprinzen ernannt wurde, orientiert sich das Land an der sogenannten Vision 2030. Soziale und wirtschaftliche Reformen wurden eingeleitet, beispielsweise die Aufhebung der Geschlechtertrennung, die Stärkung der Frauenrechte, die Verringerung des religiösen Einflusses und nicht zuletzt die Diversifizierung der Industrie weg von der bis dahin übermächtigen Abhängigkeit von der Ausbeutung fossiler Brennstoffe. So bestätigt fast jeder, der das einst abgeschottete Saudi-Arabien der letzten Jahrzehnte erlebt hat, dass das Land kaum wiederzuerkennen sei. Offenbar wird dieser Weg zu einer liberaleren Wirtschaft und einer offeneren Gesellschaft von einer Mehrheit der saudischen Bevölkerung unterstützt.
In der Vision 2030 spielt die Architektur eine entscheidende Rolle, eine Rolle, die als „Salmani-Architektur“ bezeichnet wird. „Indem die König-Salman-Charta für Architektur und Städtebau ein solides Fundament für die Salmani-Architektur schafft und das Bekenntnis zu den authentischen Werten, die König Salman etabliert hat, aufrechterhält, stellt sie eine neue Phase in der urbanen Renaissance des Königreichs dar und bewahrt seine Identität und Kultur, indem sie einer einzigartigen Ästhetik und einem Geist Tribut zollt, die mit den Nachhaltigkeitspraktiken übereinstimmen, die Saudi-Arabien seit der Gründung des Landes vertritt“, so ist in der erwähnten Charta zu lesen. Statt weltweite Einflüsse aus der Architektur zu übernehmen und zu kopieren, soll die Gestaltungsagenda also vor allem auf dem eigenen kulturellen Erbe des Landes basieren. So ließe sich die „Salmani-Architektur“ als kulturell kontextualisierter Modernismus beschreiben.
Saudi-Arabien ist ein riesiges Land mit einer reichen Kulturgeschichte und einem rasanten Urbanisierungstempo. Der Grad der Verstädterung ist von 21 Prozent im Jahr 1950 auf heute 83 Prozent der Bevölkerung gestiegen, die in Städten wie Dschidda, den beiden heiligen Städten Mekka und Medina sowie in der Ostregion an der Grenze zu Kuwait, Katar und dem Arabischen Golf leben. Riad ist mit etwa acht Millionen Einwohnern jedoch die mit Abstand größte, politisch und damit auch wirtschaftlich einflussreichste Stadt Saudi-Arabiens.
In all dem liegt jedoch eine enorme Herausforderung für das größte Land im Nahen Osten und den drittgrößten Öl- und Gasexporteur der Welt. Wie lassen sich die gelegentlich fragwürdigen Segnungen der Moderne in einem Land amalgamieren, das einen derart radikalen Wandel durchmacht? Dabei wirft insbesondere die schwer fassbare Qualität der Kontingenz, die der Moderne innewohnt, Fragen auf. Während die Moderne in den westlichen Wohlfahrtsstaaten heutzutage oft Unbehagen und weit verbreitete Skepsis oder sogar Wut und Verzweiflung hervorruft, ist sie im vergleichsweise jungen Saudi-Arabien – im Jahr 2022 waren 63 Prozent der 37 Millionen Einwohner unter dreißig Jahre alt – stark mit einer enthusiastischen Feier des Fortschritts verbunden. Die kommenden Mega-Events – Expo 2030 in Riad, Fußball-WM 2034 in Saudi-Arabien – und die unglaublichen (und bis zu einem gewissen Grad auch unglaubhaften) Giga-Projekte – am bekanntesten ist sicher die Bandstadt „The Line“ – werden die Transformationsgeschwindigkeit im nächsten Jahrzehnt weiter beschleunigen. Nicht alles davon verläuft reibungslos, wie die internationalen Schlagzeilen berichten. Diese Ausgabe konzentriert sich auf die Hauptstadt Riad; an ihr lässt sich, so denken wir, Pars pro Toto darstellen, was in ähnlicher Weise auch im Rest des Landes vor sich geht.
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