Something New Under the Sun: die Mobilitätsrevolution in Südkalifornien
Die Auto-Stadt Los Angeles arbeitet an der Verkehrswende, schon aus pragmatischen Gründen – langes Pendeln und Stehen im Stau gehören zum Alltag. Hilft das Smartphone beim Umbau der Metropole?
Text: Lindsay, Greg
Something New Under the Sun: die Mobilitätsrevolution in Südkalifornien
Die Auto-Stadt Los Angeles arbeitet an der Verkehrswende, schon aus pragmatischen Gründen – langes Pendeln und Stehen im Stau gehören zum Alltag. Hilft das Smartphone beim Umbau der Metropole?
Text: Lindsay, Greg
SOS – Rettet unsere Bürgersteige
Die Geschichte von Los Angeles ist, wie die der meisten Städte, eine Geschichte der sich wandelnden Mobilität. John Rossant und Stephen Baker, 2019
Eines Nachts im September 2017 tauchten in Santa Monica, einer Küstenstadt westlich von Los Angeles, auf mysteriöse Weise Elektroroller auf den Bürgersteigen und Promenaden auf. Die unmarkierten Gefährte gehörten Bird, einem lokalen Start-up-Unternehmen, das sie über eine Smartphone-App minutenweise vermietet. Obwohl die Scooter auf öffent-lichen Flächen im Freien geparkt waren, hatte Bird keine Genehmigung der Behörden eingeholt, diese nicht einmal informiert, bevor es seine Gefährte in der Stadt verteilte. Diese Entscheidung wurde wahrscheinlich von Ubers Strategie der „erlaubnisfreien Innovation“ inspiriert: Erst die Regeln brechen, danach um Verzeihung bitten. („Danach“ bedeutet in diesem Fall Monate oder sogar Jahre später, erst nachdem ein stetiger Einnahmestrom eingesetzt hatte, ein beträchtlicher Kundenstamm aufgebaut war und einflussreiche Lobbyisten eingesetzt werden konnten, um Regierungsbeamte zu beeinflussen.) Tatsächlich fanden die kleinen zweirädrigen Fahrzeuge, die fast überall geparkt werden konnten und einfach und intuitiv zu bedienen waren, sofort Anklang, und innerhalb weniger Monate waren Tausende von ihnen auf den Bürgersteigen verstreut. Trotz öffentlicher Gegenreaktionen und drohender Verbote war über Nacht ein beträchtlicher Teil des öffentlichen Raums von einer neuen, privaten Form des Personentransports erobert worden.
Im Gegensatz zu früheren Start-ups warf Bird den Städten unter dem Motto„Save Our Sidewalks“ (SOS) ein paar Brotkrumen hin und versprach, pro Scooter und Tag einen Dollar für den Bau von Fahrrad- und Rollerwegen zu spenden – Bird forderte die Behörden offen heraus, ihm auf Kosten seines Hauptkonkurrenten, des Autos, Fahrspuren und Parkplätze am Straßenrand zu überlassen.
Anfang 2019 stellte das Unternehmen das SOS-Programm stillschweigend ein und behauptete, die Städte würden die Gelder falsch verwenden. Zu diesem Zeitpunkt hatte Bird jedoch bereits mehr als 100 Millionen Fahrten in 120 Städten verzeichnet und war das erste Start-up, das in weniger als einem Jahr einen Wert von zwei Milliarden Dollar erreicht hatte. Hatten Uber und Lyft gezeigt, wie eine Kombination aus neuer Technolo-gie und finanzkräftigen Investoren das Taxigewerbe und die Regulierungsbehörden auf den Kopf stellen kann, ließ die Taktik von Bird erahnen, wie die nächste Welle von Mobilitätsunternehmen versuchen würde, das städtische Gefüge als solches neu zu gestalten.
Stationslose E-Roller, E-Bikes und andere Formen der „Mikromobilität“ stellen die erste bedeutende neue Fahrzeugkategorie dar, die seit mehr als einem Jahrhundert auf den Straßen von Los Angeles aufgetaucht ist. Im Gegensatz zu Drohnen für den Personentransport oder vollständig autonomen Fahrzeugen ist der Aufstieg von Mikromobilitätsfahrzeugen erstaunlich kurz und sehr real. Branchenanalysten für Scooter und ähnliche Fahrzeuge sprechen euphorisch von einer höheren und schnelleren Akzeptanz als bei Ride-Hailing-Autos und stellen fest, dass zwei Fünftel aller Autofahrten kürzer als sechs Kilometer sind (eine Strecke, die auf zwei Rädern leichter zu bewältigen ist als auf vier). Mit anderen Worten: Das Feld ist bestellt für die Ernte.
Auch wenn ihr Versprechen, die Städte zu verändern, nie ganz eingelöst wird, stellen Elektroroller ein radikal anderes Modell für die urbane Mobi-lität dar. Anstatt mit dem eigenen Auto von der Garage auf die Autobahn zu fahren, um dann zu einem Parkplatz in einem Bürogebäude oder Einkaufszentrum zu gelangen, kann man mit einem E-Scooter zu einem nur wenige Minuten entfernten Café mit Arbeitsraum fahren – alles nahtlos über eine App gebucht und mit einem Fingertipp bezahlt. Der Roller könnte sogar zumKunden kommen. Spin, Segway-Ninebot und andere entwickeln teilautonome Versionen, die sich selbst ausliefern, so dass man sich den Scooter direkt vor die Haustür bestellen kann.
Und das ist nur eines von Dutzenden möglichen Verkehrsszenarien, die derzeit in Los Angeles mit Nachdruck verfolgt werden. Die schiere Vielfalt dieser Szenarien in Bezug auf ihre Größe, die verwendeten Technologien, die Struktur ihrer Finanziers und sogar ihre Bewegungsräume (nicht nur die Oberfläche der Stadt, sondern auch darüber und darunter) ist bemerkenswert und stellt eine so tiefgreifende Herausforderung für den Status quo der urbanen Mobilität dar, wie es sie seit mehr als einem Jahrhundert nicht mehr gegeben hat.
Das augenfälligste Symbol dieses Wandels ist die Abkehr vom schwerfälligen SUV hin zu einer Vielzahl neuer Fortbewegungsmittel – kleiner, wendiger und auf unterschiedliche Zwecke oder Entfernungen zugeschnitten. Noch revolutionärer, wenn auch weniger sichtbar, sind die erstaun-lichen Innovationen in der digitalen Technologie – insbesondere das Aufkommen von Smartphone-Apps –, die es ermöglichen, alle Arten von Fahrzeugen bei Bedarf einfach zu mieten, anstatt sie zu besitzen: von den Elek-trofahrzeugen von Bird und Lime bis hin zu den Flotten konventioneller Limousinen von Uber und Lyft. „Das Smartphone ist wohl die grundlegendste Verkehrstechnologie des 21. Jahrhunderts“, brachte Henry Grabar die Entwicklung 2019 auf den Punkt. Die weit verbreitete Akzeptanz von Carsharing stellt in vielerlei Hinsicht die radikalste Veränderung für die große Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung dar, insbesondere in Südkalifornien. Für sie war der Besitz eines eigenen Autos lange Zeit nicht nur ein unveräußerliches Recht, sondern auch Teil der eigenen Identität.
Und doch sind selbst diese bemerkenswerten Veränderungen unseres Lebensstils vielleicht nicht der stärkste oder umwälzendste Effekt der Mobilitätsrevolution, die in Los Angeles ihren Anfang nimmt. Die Geschich-te des unerwarteten Auftauchens von Bird in Santa Monica kündigt eine bemerkenswerte Neuverhandlung der Beziehung zwischen privaten Unternehmen und der öffentlichen Hand an, die seit langem die moderne Stadt regiert und ihr Form gegeben hat. So wie die Eisenbahnlinien, dann die Straßenbahnnetze und schließlich die Autos (und das große Autobahnnetz, das für sie gebaut wurde) die physische und sozioökonomische Landschaft von Los Angeles nach und nach verändert haben, verspricht nun eine neue Generation von Technologien die Region erneut zu verändern, und zwar auf eine Weise, die wir gerade erst zu erahnen beginnen.
Die Küche
Es war wohl kaum ein Zufall, dass Bird Santa Monica als Standort für den Start seines neuen Fahrdienstes wählte – und auch nicht, dass das Start-up überhaupt in Los Angeles ansässig war. Ende der 2010er Jahre hatte sich die weitläufige Metropole zum weltweiten Innovationszentrum für urbane Mobilität entwickelt. Das war in gewisser Weise überraschend. Schließlich wurde keine andere Stadt so sehr mit dem dominierenden Verkehrsmittel des 20. Jahrhunderts in Verbindung gebracht, dem privaten Auto, das all diese Innovationen abzulösen versuchen. Los Angeles bietet auch eine einzigartige – und einzigartig herausfordernde – regulatorische Landschaft für jedes Mobilitätsunternehmen. Das meint nicht nur die Stadt Los Angeles selbst, in der die Macht zwischen dem Bürgermeister und einem fünfzehnköpfigen Stadtrat aufgeteilt ist, sondern auch Dutzende kleinerer unabhängiger Städte wie Cuver City, Beverly Hills, Bel-Air, West Hollywood, Inglewood und natürlich Santa Monica. Als wäre das nicht schon kompliziert genug, gibt es auch noch zahlreiche „unincorpo-rated“ Bezirke, die rechtlich zu keiner Stadt gehören und stattdessen vom Los Angeles County verwaltet werden. Selbst ein Fahrzeug, das nur kurze Strecken zurücklegt, kann auf einer typischen Fahrt drei oder vier Bezirksgrenzen überqueren. Und wer ist da nun zuständig?
Diese Nachteile wurden jedoch in den letzten Jahren durch die Vorteile der Region mehr als ausgeglichen. An erster Stelle ist natürlich das son-nige Klima von Los Angeles zu nennen, das E-Scooter und E-Bikes zu einer attraktiven Alternative zu geschlossenen Fahrzeugen macht. Hinzu kommt die lange Tradition Südkaliforniens als Vorreiter in der Luft- und Raumfahrttechnik und sein großer Pool an hochqualifizierten Ingenieuren, deren Know-how in Leichtbaukonstruktionen und innovativen Materialien sich leicht auf die Entwicklung dieser neuen Fahrzeuge übertragen lässt. Arbeitsflächen für Start-ups sind in den weitläufigen Industriegebieten der Region relativ leicht zu finden und zahlreiche Quellen für Ri-sikokapital nicht weit entfernt.
Daneben gibt es eine weitere Komponente: Die scheinbare Unlösbarkeit der Verkehrskrise macht L.A. offen für die Erforschung alternativer Fort-bewegungsmöglichkeiten. Die Regierenden von Los Angeles koordinieren derzeit das größte öffentliche Nahverkehrsprojekt in Amerika seit acht-zig Jahren, haben aber gleichzeitig den roten Teppich für alle ausgerollt, die sich für private Mobilität interessieren. „Mein Ziel und das Ziel dieser Stadt“, erklärte der damalige Bürgermeister Eric Garcetti 2018 unmissverständlich, „ist es, die Welthauptstadt des Personenverkehrs zu werden.“
Als Reaktion auf die enormen Marktchancen der Stadt und die „Einladung“ des Bürgermeisters wurde in ganz Südkalifornien mit der Entwicklung einer Vielzahl neuer Verkehrskonzepte begonnen. Einige sind klein, andere gigantisch. Einige werden bereits intensiv genutzt, andere sind noch Prototypen, und wieder andere existieren bisher nur in der Traumwelt digitaler Visualisierungen.
Am einen Ende des Spektrums stehen die „Mikro“-Lösungen, die vom winzigen Bird-Scooter über etwas größere E-Bikes bis hin zu einem neu-artigen, kleinen, aber geschlossenen Elektro-Hybrid-Zweisitzer wie dem Arcimoto reichen. Letztere sollen, so ihr Erfinder Mark Frohnmayer, den „riesigen [Markt-]Raum zwischen Motorrad und Auto“ füllen und eignen sich für die meisten Kurzstrecken, die Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner normalerweise mit ihren Autos zurücklegen. Auf der Ebene des normalen Pkw gibt es unzählige Prototypen, die von Technologieunternehmen und Automobilherstellern entwickelt werden und die ihre Insassen nicht nur durch die Stadt chauffieren, sondern – ein wichtiger Neben-effekt – auch selbstständig zu Parkplätzen und Ladestationen (die sich in der Regel in abgelegenen, weniger teuren Stadtteilen befinden) fahren, wenn sie nicht gebraucht werden.
Ein wichtiger Punkt bei der Frage nach der Zukunft selbstfahrender Autos ist, ob das vertraute Modell des individuellen Fahrzeugbesitzes oder ein On-Demand-Modell mit gemeinsam genutzten Fahrzeugen wirtschaftlich und technisch sinnvoller ist. In beiden Fällen, vor allem aber im dienstleistungsorientierten Modell wird die heutige Notwendigkeit, Fahrzeuge in der Nähe der Menschen, für die sie bestimmt sind, zu parken, fast vollständig verschwinden.
Die Frage, ob die breite öffentliche Akzeptanz solcher vollautonomer Fahrzeuge in fünf, in 15, in 25 Jahren oder überhaupt irgendwann erreicht sein wird, stößt auf unterschiedliche Reaktionen. Skeptiker verweisen auf die Aussage des Verkehrsexperten Jameson Wetmore aus dem Jahr 2003, dass „automatisiertes Fahren seit sechzig Jahren nur noch zwanzig Jahre entfernt ist“. Nach mehr als einer Dekade intensiver Forschung und über 100 Milliarden US-Dollar privaten und öffentlichen Investitionen ist der anfängliche Optimismus vielerorts einem nüchternen Realismus gewichen.
Gleichzeitig gibt es eine Handvoll wirklich ehrgeiziger – wenn auch fast ausschließlich spekulativer – „Makro“-Lösungen, die für Los Angeles vorgeschlagen wurden und die auf große technische Durchbrüche setzen, umeine große Anzahl von Menschen unter der Erde oder in der Luft zu befördern. Uber Elevate, die Luftfahrtabteilung des Fahrdienstvermittlungsriesen, die inzwischen von Joby Aviation übernommen wurde, entwarf zunächst eine Reihe von über die ganze Stadt verteilten Landeplätzen in luftiger Höhe und gab Designkonzepte dafür in Auftrag. Von diesen Landeplätzen aus sollten Hunderte von unbemannten Passagierdrohnen (so genannte „electric Vertical Take Off and Landing“ oder eVTOLs) Tausende von wohlhabenden Bewohnern von Los Angeles von einem Ende der Region zum anderen bringen, indem sie den Luftkorridoren über den Autobahnen folgten. Die Frage, ob Los Angeles dem Beispiel von São Paulo folgen sollte – der Stadt mit der weltweit höchsten Anzahl an Hubschraubern pro Kopf, einer wirklich erschreckenden sozialen Ungleichheit und einem ebenso erschreckenden Verkehrsaufkommen – wird selten diskutiert.
Die erdrückenden technischen, ökologischen und regulatorischen Hindernisse für Flugrouten werden nur noch von ihrem unterirdischen Rivalen übertroffen: der Tunnel-Initiative, die von der Boring Company, dem nüchtern benannten Start-up des allgegenwärtigen Technologieunternehmers Elon Musk, vorangetrieben wird. Musk lehnt unbemannte Drohnen am Himmel ab und ist überzeugt, dass die Lösung für das Verkehrsproblem in L.A. in einer anderen Richtung liegt: in einem Netzwerk unterirdischer Tunnel, die die Region durchziehen und in denen einzelne Fahrzeu-ge auf elektrischen Hochgeschwindigkeits-„Skates“ zu vertikalen Zugangspunkten in der ganzen Stadt transportiert werden, wo fahrstuhlähnliche Aufzüge jedes Auto an die Straßenoberfläche und nach unten befördern.
Trotz des Science-Fiction-Charakters des Konzepts ist es Musks Unternehmen Berichten zufolge gelungen, erhebliche Fortschritte bei der traditionellen Bohrtechnik zu erzielen – die Kosten pro Kilometer für den unterirdischen Bau wurden erheblich gesenkt – und einen 1,83 Kilometer langen Testtunnel unter Hawthorne im Südwesten von Los Angeles zu bauen. Doch ist unklar, warum die einfachen Angelenos private Tunnel befürworten sollten, die explizit dazu dienen, die Reichen von allen anderen zu trennen. Es sei daran erinnert, dass der erste Tunnel, den Musk entworfen hat, dazu gedacht war, ihm den Weg zur Arbeit und zurück zu erleichtern, ohne im Stau zu stehen.
Los Angeles befindet sich also im Guten wie im Schlechten an vorderster Front eines weltweiten Kampfes um die Gestaltung der Stadt der Zukunft. Es ist ein Kampf privater, selbsternannter „Disruptoren“-Unternehmen, die nur auf Profit und Marktanteile schielen – gegen Behörden, die ihre Taktiken schnell weiterentwickeln müssen, um die Interessen der Allgemeinheit zu schützen und letztlich die Macht darüber zu behalten, wie und von wem der öffentliche Raum genutzt wird. Der Ausgang dieses Konflikts wird das Gesicht der Region als Ganzes mitbestimmen.
Walled Gardens
Am Anfang des sich abzeichnenden Kampfes um die Zukunft der Stadt steht eine nüchterne Tatsache: Mit mehr als 6,4 Millionen Fahrzeugen im heutigen Südkalifornien ist das Privatauto auf absehbare Zeit nicht vom Verschwinden bedroht. Das Ziel der Mobilitätsrevolution, die derzeit in Los Angeles stattfindet, ist es auch nicht, das private Auto vollständig abzuschaffen. Vielmehr geht es darum, Alternativen anzubieten, die den unterschiedlichen Wegen der Menschen besser angepasst sind, den verschiedenen Bevölkerungsgruppen besser gerecht werden, zu einem umweltfreundlicheren und energieeffizienteren Lebensstil beitragen und – wenn alles gut geht – die Staus reduzieren, die den Verkehr in der Region in den letzten Jahrzehnten an vielen Stellen auf Kriechtempo reduziert haben. Es ist nicht das Auto, es ist die überwältigende Abhängigkeit der Stadt vom Auto, die Monokultur, die die führenden Köpfe der Mobilitäts-revolution – öffentliche wie private – aufbrechen wollen.
Aber wie? Eine naheliegende Antwort ist die Entwicklung eines großen Schnellverkehrssystems. In einem Ausmaß, das jeden überrascht hätte, der das autogerechte Los Angeles von 1990 kannte, hat die Stadt seither den Bau eines ehrgeizigen Schienennetzes vorangetrieben. Ein Meilenstein ist das Jahr 2028, in dem die Stadt zum dritten Mal in ihrer Geschich-te die Olympischen Sommerspiele ausrichten wird. Bis dahin will Los An-geles 28 große Verkehrsprojekte abgeschlossen haben, darunter die Verdoppelung des U-Bahn-Netzes. Eine solche Entwicklung hat es in keiner amerikanischen Stadt seit der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg gegeben, als mit der Fertigstellung der IND-Linie (Independent Line) im Jahr 1940 vierzig Jahre intensiver U-Bahnbau in New York zu Ende gingen.
Es bleibt jedoch eine Tatsache, dass viele Bürgerinnen und Bürger bisher wenig Interesse gezeigt haben, selbst öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Eine Umfrage, die Michael Manville von der UCLA im Jahr 2019 durchgeführt hat, deutet darauf hin, dass die alte Parodie des Satiremagazins Onion vielleicht doch etwas Wahres hat: „98 Prozent der Pendler in den USA befürworten öffentliche Verkehrsmittel für andere.“ Die Menschen wollen, dass ihre Nachbarn mit Bahn oder Bus fahren, damit sie selbst ungehindert zur Arbeit kommen. Trotz der Inbetriebnahme neuer Linien ist die Zahl der Fahrgäste auf den neuen Bahnlinien der LA Metro in den letzten fünf Jahren jedenfalls nur geringfügig gestiegen.
Andere schlugen vor, die Situation längerfristig zu betrachten, insbesondere angesichts der enormen Anzahl von Wohnungen, Büros und Einzelhandelsgeschäften, die derzeit in der Nähe von U-Bahn-Stationen gebaut werden. Irgendwann wird es für eine beträchtliche Anzahl von Angelenos, wie für die Menschen in New York oder Chicago, einfacher sein, ein oder zwei Blocks von ihrer Hochhauswohnung zur U-Bahn-Station zu laufen, als sich stundenlang durch dichten Verkehr zu quälen.
Wieder andere argumentieren, dass es doch für alles eine App gibt und dass Busse und Bahnen eher wie Uber funktionieren sollten. Oder von Uber selbst betrieben werden sollten. Tatsächlich hat der rasante Aufstieg und die flächendeckende Einführung von Uber, Lyft und ihren Konkurrenten Mitte der 2010er Jahre erfahrene Verkehrsplaner überrascht. „Niemand, auch ich nicht, hatte eine Ahnung, dass die Menschen ihre Mobilitätsgewohnheiten so schnell und drastisch ändern würden“, gestand der bekannte Verkehrsingenieur „Gridlock Sam“ Schwartz kürzlich. Innerhalb weniger Jahre haben Uber und Lyft die traditionellen Statussymbole der kalifornischen Autokultur auf den Kopf gestellt und das Fahren mit dem eigenen Auto für viele in den Hintergrund gedrängt.
Trotz ihrer harten Taktiken beim Auf- und Ausbau ihrer Dienste haben sich beide Unternehmen unermüdlich als Verbündete der Städte im „Krieg gegen das Auto“ dargestellt. Sie griffen die Beobachtung von Donald Shoup von der UCLA auf, dass Autos 95 Prozent der Zeit geparkt sind, und behaupteten, dass die beispiellose Bequemlichkeit ihrer Fahrdienstflotten letztlich den Privatbesitz zum Wohle der Stadt verdrängen würde.
Wie jedoch Untersuchungen von Wissenschaftlern, Verkehrsbehörden und sogar den Unternehmen selbst gezeigt haben, ist es den Fahrdienstvermittlern gelungen, den Parkplatzbedarf zu senken, indem sie Hunderte Millionen neuer Fahrzeugkilometer (VMT) auf die Straßen amerikanischer Städte gebracht haben. Da ihre künstlich niedrigen Fahrpreise durch Risikokapital subventioniert wurde, zahlten viele den Preis für ihre ständige Mobilität. Uber- und Lyft-Fahrten machten vor der Pandemie im Bezirk Los Angeles nach eigenen Angaben 2,6 Prozent des Verkehrsaufkommens aus – eine beachtliche Zahl. Entsprechend ist die Verkehrsbelastung gestiegen. Und es ist kein Zufall, dass die Geschwindigkeit der Busse in gleichem Maße gesunken ist, manchmal auf Kriechtempo, was zu einem Teufelskreis führt, in dem die vermeintlichen Verbündeten des ÖPNV dazu beitragen, dass sich eine Welle frustrierter Fahrgäste vom öffentlichen Nahverkehr abwendet.
Angesichts dieser entmutigenden Situation könnte man versucht sein, Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Befürworter des ÖPNV haben als Antwort auf die unmittelbare Befriedigung durch Fahrdienste mit „Mobility-as-a-Service“ (MaaS) geantwortet. In dieser Vision würde eine einzige Smartphone-App, die Routenplanung, Buchung und Bezahlung für mehrere Verkehrsmittel kombiniert, sowohl öffentliche als auch private Dienstleistungen erweitern und gleichzeitig ein hohes Maß an öffentlicher Kontrolle überdie Mobilität der Menschen beibehalten. Fahrkarten würden durch monatliche „All-you-can-travel“-Abonnements ersetzt, in der Hoffnung, die Kunden davon zu überzeugen, wieder auf den Zug oder den Bus umzusteigen. Anthony Townsend schreibt, dass sich in dieser Vision die traditionellen Verkehrsbetriebe in „Mobilitätsintegratoren“ verwandeln, „die in das MaaS-Geschäft expandieren, während sie weiterhin Züge und Busse betreiben. Damit würde sich die Rolle der öffentlichen Hand allmählich vom reinen Bau und Betrieb von Zügen und Bussen hin zur Koordination von Mobilitätsdatenströmen und Transaktionen von Mobilitätsdiensten erweitern.“
Die Kombination von festen Nahverkehrslinien mit der Flexibilität neuer Mobilitätsformen, könnte das „Letzte-Meile-Dilemma“ lösen, das die Verkehrsplanung seit Jahren beschäftigt: Im dünn besiedelten Los Angeles wohnen die Menschen oft zu weit von einer Station entfernt, um zu Fuß gehen zu können. Wie sollen sie die letzte Meile zurücklegen? Ein günstiger, leicht verfügbarer E-Scooter, ein E-Bike oder eine Fahrt mit Uber könnten die Lösung sein. Phillip Washington, ehemaliger Chef der LA Me-tro, hat für dieses hybride System eine organische Analogie vorgeschla-gen: die Schienen- und Buslinien der Metro als robuste Haupt- und Nebenäste des Systems und die Roller, Fahrräder und Fahrdienste als zarte Ranken, die praktisch überall hinreichen.
Die vielleicht größten Befürworter dieser Idee in den Vereinigten Staaten sind ironischerweise Uber und Lyft. Uber hat mit dem Amtsantritt des neuen CEO Dara Khosrowshahi im Jahr 2017 begonnen, sich neu auszurichten. „Ich möchte die Bussysteme einer Stadt betreiben“, sagte er in seinem ersten öffentlichen Statement. „Ich möchte, dass man mit einem Uber zur U-Bahn fahren kann ... [und dann] aussteigt und dort ein Uber wartet.“ Abgesehen davon, dass seine Pilotprojekte zur Anbindung von Pendlern an das öffentliche Verkehrsnetz nicht sehr erfolgreich waren, steckt in dieser Aussage viel Potenzial. Uber will natürlich keine Busse im Auftrag von Städten betreiben, verkauft aber in Denver und London bereits Bustickets über seine App, und weitere Städte sollen folgen. Khosrowshahi hat sein Ziel für Uber inzwischen erweitert und will das Unternehmen zum „Betriebssystem für Ihren Alltag“ machen.
Während des rasanten Aufstiegs der Ridesharing-Dienste Mitte der 2010er Jahre hatten Behörden die Start-ups angefleht oder bedroht, damit sie die notwendigen Daten zur Verfügung stellten, um Umfang und Ausmaß ihrer Geschäftstätigkeit zu verstehen – ohne Erfolg. Doch obwohl sie praktisch im Blindflug agierten und die staatlichen Gesetzgeber ihnen die Regulierungsbefugnisse entzogen hatten, hatten sich die Beschäftigten des Los Angeles Department of Transportation (LADOT) geschworen, besser vorbereitet zu sein, wenn das „nächste große Ding“ auftauchen würde. Genau zu diesem Zeitpunkt kam Bird auf den Markt.
Code Ist der neue Beton
Als die E-Scooter von Bird die Bürgersteige von Santa Monica zu überfluten begannen, befürchteten die Verkehrsbehörden, dass sie erneut überfordert sein würden, genauso wie damals, als die Ride-Hailing-Dienste aus dem Nichts auftauchten. Doch diesmal war LADOT vorbereitet. Monatelang hatten die Beschäftigten mit Softwareingenieuren und Kolleginnen aus dem ganzen Land zusammengearbeitet, um die Mobility Data Speci-fication (MDS) zu entwickeln, einen offenen Standard für den Empfang von Daten über den Status eines Fahrzeugs – wo es sich befindet, was es tut und wann eine Fahrt beginnt und endet. Ursprünglich im Hinblick auf die Einführung selbstfahrender Autos konzipiert, wurde MDS sofort umfunk-tioniert, um der konkreten und unmittelbaren Gefahr durch die Bird-Scooter zu begegnen.
MDS ermöglicht es den Aufsichtsbehörden, Anweisungen zu senden. Ist ein Radweg gesperrt? Lassen Sie Ihre App eine Umleitung berechnen. Jemand hat Ihren Roller in die Kanäle von Venice Beach geworfen? Holen Sie ihn zurück. Haben Sie in Ihrer Betriebsgenehmigung versprochen, einkommensschwache Stadtviertel zu bedienen? Dann setzen Sie dort mehr Fahrzeuge ein. Und so weiter.
Dass eine öffentliche Behörde ihre eigenen Softwarestandards schreibt, war beispiellos, aber im 21. Jahrhundert wohl notwendig, um den Anschein der Kontrolle über den öffentlichen Raum zu wahren. „Wir planen und gestalten die Straßen – aber wir verwalten und betreiben sie auch“, erklärte Seleta Reynolds, die damalige Geschäftsführerin von LADOT (und energische Verfechterin einer ÖPNV-orientierten Zukunft für Südkalifornien), die MDS in Auftrag gab. „Code ist der neue Beton.“
Santa Monica war die erste Stadt, die MDS zur Bedingung für Bird und andere Scooter-Unternehmen machte, als der Code im Frühjahr 2018 in Kraft trat. (Innerhalb weniger Monate folgten Los Angeles, San Jose, Seatt-le, Austin und siebzig weitere Städte diesem Beispiel.) Diese Städte zögerten nicht, von ihren neuen Befugnissen Gebrauch zu machen. Im Juli 2019 rügte Santa Monica Bird wegen Überschreitung der in der Genehmigung festgelegten Fahrzeuganzahl und verwies auf „Datenanomalien“, die vom MDS registriert worden waren. Die Konsequenzen folgten auf dem Fuße: Bird wurde angewiesen, seine Flotte zu verkleinern, während Jump und Lyft eine Aufstockung ihrer Flotte erhielten.
Wie nicht anders zu erwarten, waren die Städte, die MDS einführten, nicht bei allen Betreibern beliebt. Uber und andere haben sich beschwert und Datenschutzbedenken geltend gemacht. Sie argumentierten, dass die Rohdaten deanonymisiert werden könnten, so dass LADOT die Bewegungen von Personen verfolgen und diese Informationen an Strafverfolgungsbehörden weitergeben könnte. Die Debatte wurde zunächst im kalifornischen Parlament und dann vor Gericht ausgetragen. Im Kern geht es um die Frage: Wem gehören die Daten von Privatfahrzeugen auf öffentlichen Straßen – dem Unternehmen, dem Kunden oder der Stadt?
MDS war das erste Tool, das Los Angeles maschinenlesbar machte, aber es wird sicher nicht das letzte sein. Eine Firma namens Coord – ein Spin-off der Google-Tochter Sidewalk Labs – hat es sich zur Aufgabe gemacht, jeden Zentimeter Bordsteinkante in fünfzehn Städten, beginnend mit Los Angeles, zu erfassen. Das Ziel: „Eine Welt zu schaffen, in der jeder Quadratmeter einen Preis hat“, wie es CEO Stephen Smyth formuliert. Dieser „Asphalt-Marktplatz“ würde das Konzept der dynamischen Preisgestaltung nutzen, um den Platz auf Bürgersteigen und Fahrbahnen je nach Bedarf der Städte in Echtzeit zuzuweisen und umzuverteilen.
Andere Start-ups wie Humn.ai und ClearRoad verfolgen ähnliche Ansätze für die Mauterhebung auf Autobahnen. Sogar die Los Angeles County Metropolitan Transportation Authority hat damit begonnen, die Mechanismen für die Einführung von Staugebühren in Südkalifornien zu untersuchen. Was als Kampf um Daten begann, entwickelt sich schnell zu einem Kampf um die Kontrolle der Gewinne in einem zunehmend umkämpften öffentlichen Raum. „Es wird nicht nur um eine Gebühr gehen“, sagt Townsend. „Man kann die Straßen der Stadt in einen riesigen Geldautomaten verwandeln.“
In jedem Fall sind Behörden wie die LADOT entschlossen, immer einen Schritt voraus zu sein. Wenn sie es nicht schaffen, in dieser schönen neuen Welt präsent zu sein, wird die urbane Mobilität der Stadt des 21. Jahrhunderts von Technologieunternehmen bestimmt werden, die sich fast ausschließlich von ihren eigenen finanziellen Zielen und Aufträgen leiten lassen und nicht von den Bedürfnissen der 13 Millionen Menschen, die im Großraum Los Angeles leben. „Wir laufen Gefahr, den Fehler zu wiederholen, den wir vor einem Jahrhundert gemacht haben“, sagt Reynolds. „Wir passten die Stadt der Technologie an und nicht umgekehrt.“
Grenzen überschreiten
Die Größe der Parkplätze in der Stadt und die Anzahl der Tankstellen können als klares Zeichen für den Sieg des privaten Autos über jede andere Form der Mobilität gewertet werden. Die klaren Linien dieses Kampfes beginnen jedoch zu verschwimmen, da die neue Generation digitaler Geräte und Systeme diese Landschaft unweigerlich komplexer macht. Zusammengenommen weisen sie auf eine Zukunft der städtischen Mobilität hin, die mit ziemlicher Sicherheit eine enge Verflechtung öffentlicher und privater Interessen beinhalten wird, die sich von Jahr zu Jahr – wenn nicht von Monat zu Monat – weiterentwickelt. Die Möglichkeit, kilometerweise überflüssige Parkplätze und ausgediente Tankstellen zu beseitigen, sind nur zwei Aspekte dieser neuen Situation, deren Auswirkungen ebenso tiefgreifend sein könnten wie die früheren Revolutionen, die die Stadt, wie wir sie kennen, hervorgebracht haben. Im Moment können wir nur erahnen, wie dieses neue Verkehrsparadigma Los Angeles, die Hauptstadt der Mobilität, erneut verändern wird.
Übersetzung aus dem Englischen: Beate Staib
Dieser Essay ist eine Adaption des Beitrags „Something New under the Sun“, erschienen im Buch „Renewing the Dream: The Mobility Revolution and the Future of Los Angele“, herausgegeben von James Sanders, Rizzoli Electa, New York 2024
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