Gedenkstätte in Michniów
Südlich der polnischen Hauptstadt hat der Architekt Mirosław Nizio einen Erinnerungsort geschaffen. Er widmet sich mit großer Eindrücklichkeit der grausamen Auslöschung vieler Dörfer durch die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkriegs.
Text: Mausbach, Therese, Berlin
-
Die Gedenkstätte im kleinen Dorf Michniów gliedert sich in einzelne Satteldachfragmente aus Sichtbeton, die sich zum Wald hin mehr und mehr auflösen.
Foto: Marcin Czechowicz
Die Gedenkstätte im kleinen Dorf Michniów gliedert sich in einzelne Satteldachfragmente aus Sichtbeton, die sich zum Wald hin mehr und mehr auflösen.
Foto: Marcin Czechowicz
-
Der Neubau entstand nach langer Planungs- und Bauzeit auf dem Gelände einer früheren Gedenkstätte.
Foto: Marcin Czechowicz
Der Neubau entstand nach langer Planungs- und Bauzeit auf dem Gelände einer früheren Gedenkstätte.
Foto: Marcin Czechowicz
-
Der Betonriegel ist 200 Meter lang und besteht aus einzelnen Segmenten.
Foto: Marcin Czechowicz
Der Betonriegel ist 200 Meter lang und besteht aus einzelnen Segmenten.
Foto: Marcin Czechowicz
-
Die Gedenkstätte wird über den großen Eingang der Kapelle oder über die seitlichen Wege betreten. Die Skulptur im Vordergrund befand sich dort bereits seit 1993 und wurde etwas versetzt.
Foto: Marcin Czechowicz
Die Gedenkstätte wird über den großen Eingang der Kapelle oder über die seitlichen Wege betreten. Die Skulptur im Vordergrund befand sich dort bereits seit 1993 und wurde etwas versetzt.
Foto: Marcin Czechowicz
-
Der Andachtsraum reicht hoch bis zur Decke, während die anschließenden vier Segmente in zwei Ebenen geteilt sind. Die Kapelle ist im Vergleich schlicht gestaltet worden.
Foto: Marcin Czechowicz
Der Andachtsraum reicht hoch bis zur Decke, während die anschließenden vier Segmente in zwei Ebenen geteilt sind. Die Kapelle ist im Vergleich schlicht gestaltet worden.
Foto: Marcin Czechowicz
-
Urnen der Dörfer befinden sich in den Nischen.
Foto: Marcin Czechowicz
Urnen der Dörfer befinden sich in den Nischen.
Foto: Marcin Czechowicz
-
Das Freiluftmuseum bildet die Rückseite des Gebäudes, dessen Ausstellungsarchitektur auch von Nizio gestaltet wurde.
Foto: Marcin Czechowicz
Das Freiluftmuseum bildet die Rückseite des Gebäudes, dessen Ausstellungsarchitektur auch von Nizio gestaltet wurde.
Foto: Marcin Czechowicz
-
Schwarze Schautafeln aus Stahl zeigen die Opfer und sind auf versengten Holzwänden angebracht. Die Balken stammen von typischen Holzbehausungen aus den Nachbardörfern. Licht, Schatten und Wetterveränderungen beeinflussen die Atmosphäre der Architektur stark.
Foto: Marcin Czechowicz
Schwarze Schautafeln aus Stahl zeigen die Opfer und sind auf versengten Holzwänden angebracht. Die Balken stammen von typischen Holzbehausungen aus den Nachbardörfern. Licht, Schatten und Wetterveränderungen beeinflussen die Atmosphäre der Architektur stark.
Foto: Marcin Czechowicz
Beim Durchqueren der Innenstadt von Warschau tummeln sich die Leute am Kulturpalast, seine Aussichtsplattform ist sehr beliebt, auch da die Skyline wächst. Zwischen den vielen neuen Türmen schwingt Daniel Libeskinds Wohnhochhaus wie eine gefaltete Tafelserviette empor. Es gilt als Höchstes seiner Art in Europa. Und noch einen Rekord will Polen knacken. Ende des Jahres wird Fosters Varso Tower fertiggestellt. Mit 310 Metern Gesamthöhe ist der Büroturm das höchste Gebäude der Europäischen Union – ohne lange Antenne und ohne Brexit sähe das Ranking allerdings anders aus.
Wir verlassen die Hauptstadt nach Süden in eine andere, nicht glitzernde Welt. Auf Landstraßen passieren wir kleinere Ortschaften, wo sich an Fronleichnam Festtagsprozessionen durch die Straßen bewegen. Feierlich geschmückte Gebäude, hin und wieder in kräftigen Farben, reihen sich an unfertigen, unverputzten, selbst errichtetenWohnhäusern.
Die Landschaft wird hügeliger. Nach etwa zwei Stunden erreichen wir die grün bewachsene Woiwodschaft Świętokrzyskie, auf Deutsch „Heiligkreuz“, benannt nach dem hiesigen Mittelgebirge. Auf der westlichen Seite des sechzehn Hektar großen Landschaftsparks Sieradowice schließt ein riesiger Wald an. Dort liegt Mich-niów mit seinen 440 Einwohnern.
In diesem kleinen Dorf wurde zur jährlichen Gedenkfeier mit einem offiziellen Staatsakt und unter Anwesenheit von Präsident Andrzej Duda das lang geplante Mauzoleum Martyrologii Wsi Polskich w Michniowie eröffnet.
Vor 78 Jahren löschte an gleicher Stelle die deutsche Besatzung das Dorf vollständig aus. Michniów und den vielen anderen polnischen Ortschaften, die dem Nationalsozialismus grausam zum Opfer fielen, widmet sich die Gedenkstätte, entworfen vom Warschauer Architekten Mirosław Nizio. Erste Initiativen für eine Gedenkstätte gab es bereits seit Ende der siebziger Jah-re. 1989 fand eine Grundsteinlegung statt, aber die finanziellen Mittel fehlten und das Vorhaben verlief ins Leere, doch die Idee blieb. 2009 lobte schließlich das Landeskundemuseum der Region Świętokrzyskie, das Muzeum Wsi Kieleckiej, einen Realisierungswettbewerb für den Bau einer Gedenkstätte aus, den Nizio gewann. Die regionale Einrichtung geriet ebenfalls in Finanzierungsnot, sodass die Bauabschnitte nach und nach in unregelmäßigen Abständen an unterschiedliche Generalunternehmen vergeben wurden. Erst zehn Jahre später war das Vorhaben abgeschlossen – genug Zeit, um jegliche Bedenken der Bewohner von Michniów an den großen Plänen und den damit einhergehenden Veränderungen abzulegen.
Das 16.000 Quadratmeter große Gelände ist von der Straße aus öffentlich zugänglich. Ein breiter, ansteigender Weg führt uns zum 16 Meter hohen Gebäude aus Sichtbeton. Die Front mit großem Tor besitzt nur die Grundzüge eines Satteldachhauses. Der Architekt erklärt, sein Entwurf beabsichtigte, in einer abstrahierten Skulptur die Einfachheit der damaligen Dorfbehausungen anzudeuten.
Der längliche Bau gliedert sich in zehn Segmente. Im ersten Teil hinter dem Tor verbirgt sich ein Andachtsraum, im zweiten beginnt die themenbezogene Ausstellung. Der Bau erscheint zuerst geschlossen, dann durchschneiden diagonale Öffnungen in immer kürzer werdenden Abständen den insgesamt zweihundert Meter langen Riegel, bis er nach hinten in Einzelteile zu zerfallen scheint. Die drei vorderen Abschnitte sind durch Glasflächen miteinander verbunden. Sie leuchten bei Nacht und sollen an das einstige Brennen der Dorfhütten erinnern. Die immer größer werdenden Lücken zwischen den übrigen Betonelementen bilden die Zugänge in die Freiluftausstellung. Nizio vergleicht die Konstruktion des Baus mit einer Wirbelsäule. Die einzelnen Glieder sind im Zickzack mit einem die Breite des Grundstücks einnehmenden gekiesten Pfad verbunden, auf den dazwischenliegenden Wiesenflächen befinden sich große schwarze Kreuze. Auch die Öffnungen zwischen den Gliedern deuten in abgewandelter Form das christliche Symbol an. Bis auf die geschlossenen Räume sind alle Gebäudeteile eingeschossig. Im Sockelgeschoss sind ein Veranstaltungssaal, Sanitärräume und die Technik untergebracht. Die Außenwände und Dächer mit einer Gesamtstärke von achtzig Zentimetern bestehen aus mehreren Schichten. Alle 1,60 bis 2 Meter sind Tragrahmen eingefügt.
Die Fassaden werden durch Abdrücke von Holzbalken, deren Maserungen sich nicht merklich wiederholen, haptisch. Der Architekt setzte für die Schalung Bretter alter Scheunen aus der Nachbarschaft ein, um den Verweis auf die in den dreißiger Jahren in den Dörfern Polens üblichen Typenholzhäuser zu stärken. Beton steht nun für Dauerhaftigkeit und Stärke. Zudem schätzt er die von der Witterung abhängigen Erscheinungsformen und die sich entwickelnde Patina.
Zu Besuch in Nizios Büro
Lose hängen an der Wand über Mirosław Nizios Schreibtisch Blätter mit Entwurfszeichnungen. In einem goldverzierten Bilderrahmen in Überformat auch die des Mausoleums. Wir treffen den Architekten mit grauem Haarschweif und schwarzer Brille im Warschauer Szenebezirk Praga-Północ in einem ehemaligen, backsteinernen Möbellager, wo er mit seinem Team an Projekten arbeitet, die bis zu Möbelentwürfen reichen. Bekannt wurde das Büro mit der Dauerausstellung im Museum des Warschauer Aufstands sowie der des Museums der Geschichte der polnischen Juden. Derzeit beschäftigt sich Nizio unter anderem mit Gedenkorten in der Ukraine, wie etwa das in Kiew für die Opfer der Hungersnot von 1932 bis 1933 geplante Nationalmuseum „Holodomor“ und einem im Dorf Oko-py dem Freiheitskämpfer Jerzy Popiełuszko gewidmeten Museum.
Da bereits vor dem Bau der Gedenkstätte das Gelände in Michniów dem Erinnern diente, befindet sich dort eine für den Ort geschaffene, monumentale Pietà des polnischen Bildhauers Wacław Stawecki von 1993, die in nordwestlicher Richtung versetzt und mit einem Betonsockel versehen wurde. An gleicher Stelle blieben die kleine Dorfkapelle und das Dokumentationszentrum. Seit den siebziger Jahren trugen betroffene Gemeinden fast dreihundert Kreuze und Findlinge zusammen und stellten sie als Denkmäler auf dem Areal auf. Aufgrund des maroden Zustands vieler dieser Mahnmale wählte der Architekt zwanzig gut erhaltene aus und verlagerte sie an das obere östliche Ende des Geländes. Die neuen, das Gebäude links und rechts flankierenden Kreuze aus schwarz gestrichenem Lärchenholz sollen sich in ihrer Vielzahl mit dem sie umgebenen Lärchenwald verweben.
Eine kulturelle Intervention
Während andernorts Gedenkstätten als Zeitzeugnisse mit originaler Bausubstanz schlicht und nüchtern die dunkle Geschichte offenlegen, setzt Nizio in Michniów die Vergangenheit in Szene. Seine Ausstellungsarchitektur verbreitet zwischen Abbildungen der Opfer und Täter den Geruch von verbranntem Holz. Der Besucher begleitet den Wandel der Zeit mit all seinen Sinnen, spürt das ursprüngliche Dorf auf, von seiner Zerstörung bis ins Heute.
Polens Dorfstrukturen mit ihren Besonderheiten waren auch Thema des Kollektivs PROLOG+1 im polnischen Pavillon auf der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig. Das Kuratorenteam betrachtet unter dem Titel „Trouble in Paradise“ die Probleme des ländlichen Raums unter den drei Gesichtspunkten „territory, settlement, dwelling“. Umhüllt ist die Ausstellung von einem fotobedruckten Vorhang, der in Panoramaansichten die ländliche Leere abbildet. 93 Prozent der Fläche Polens ist ländlich geprägt, doch lebt sechzig Prozent der Bevölkerung in der Stadt. PROLOG+1 fordert einen neuen Impuls, der von den Dorfgemeinden ausgeht, nicht die Städte sollen den Ton vorgeben. In Michniów hat sich bereits etwas bewegt.
x
Bauwelt Newsletter
Immer freitags erscheint der Bauwelt-Newsletter mit dem Wichtigsten der Woche: Lesen Sie, worum es in der neuen Ausgabe geht. Außerdem:
- » aktuelle Stellenangebote
- » exklusive Online-Beiträge, Interviews und Bildstrecken
- » Wettbewerbsauslobungen
- » Termine
- » Der Newsletter ist selbstverständlich kostenlos und jederzeit wieder kündbar.
Beispiele, Hinweise: Datenschutz, Analyse, Widerruf
0 Kommentare