Bauwelt

Der Ostseeraum – geprägt von seinen Städten

Auf den Fall des Eisernen Vorhangs folgte rund um die Ostsee ein Wiederaufleben des Handels und politischer Kooperationen. Wo steht die Region heute – und wie entwickeln sich ihre Städte? Der Autor ist Referatsleiter im Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung und betreut das Förderprogramm Interreg für den Ostseeraum, eine Gemeinschaftsinitiative aus EU- und Nicht-EU-Staaten.

Text: Kurnol, Jens, Köln

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Durchschnittliche jährliche Bevölkerungsentwicklung von 2001 bis 2017 in den Gemeinden in Prozent
Grafik: BBSR Bonn 2020

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Durchschnittliche jährliche Bevölkerungsentwicklung von 2001 bis 2017 in den Gemeinden in Prozent

Grafik: BBSR Bonn 2020


Der Ostseeraum – geprägt von seinen Städten

Auf den Fall des Eisernen Vorhangs folgte rund um die Ostsee ein Wiederaufleben des Handels und politischer Kooperationen. Wo steht die Region heute – und wie entwickeln sich ihre Städte? Der Autor ist Referatsleiter im Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung und betreut das Förderprogramm Interreg für den Ostseeraum, eine Gemeinschaftsinitiative aus EU- und Nicht-EU-Staaten.

Text: Kurnol, Jens, Köln

Was macht den Ostseeraum besonders? Ich glaube, dafür gibt es zwei Gründe. Das ist zum einen die sehr ausgeprägte Kultur der Kooperation. Ich erinnere mich gut an die Eröffnungsrede des schwedischen Ministerpräsidenten Stefan Löfven beim Jahresforum der Strategie für den Ostseeraum der Europäischen Union 2016 in Stockholm: Die Sicherheitssituation in der Region verschlechtere sich, Unruhe und Sorgen nähmen zu. „Common Security“, ein Begriff, den der frühere schwedische Präsident Olof Palme geprägt hat, sei der einzige Ausweg – und dieser bedeute die Zusammenarbeit über Grenzen hinweg, die Schaffung einer gemeinsamen Zukunft durch Dialog und Vertrauen. Löfven wies darauf hin, dass die Bekämpfung von Armut und das Fördern von Nachhaltigkeit ganz oben auf der politischen Agenda stehen müssten, und dass vor allem die skandi­navischen Länder, aber auch die anderen Ostseeanrainer, hier Verantwortung tragen. Aus ihrer Geschichte wissen die betroffenen Staaten, Kommunen und Städte ziemlich genau, dass Freihandel, gemeinsame Entwicklung und ein vertrauensvoller Dialog für mehr Sicherheit die Garanten für das Wohlergehen ihrer Bewohner sind.
Zwei große Initiativen gibt es, die diesen Dialog fördern: der 1992 gebildete Ostseerat und die 2009 ins Leben gerufene EU-Strategie für den Ostseeraum. Der Ostseerat soll die Nachhaltigkeit, den Wohlstand und die Sicherheit der Region fördern. Seit der Erweiterung der EU um Schweden und Finnland 1995 sowie Polen und den baltischen Staaten 2004 liegt der Mehrwert des Ostseerates vor allem in der dauerhaften Einbindung Russlands. Die EU-Strategie für den Ostseeraum war Vorreiter für die mittlerweile vier der makroregionalen Strategien der Europäischen Union und zielt mit konkreten Projekten auf den Schutz der Ostsee und der besseren Verbindung in der Region – unter Einbindung von Kommunen, Ländern und lokalen Akteuren.
Der zweite wesentliche Grund, warum der Ostseeraum besonders ist, sind seine Städte. Kaum eine europäische Großregion ist so stark von ihren Hafenstädten geprägt: Eine Ostsee ohne Kopenhagen, Stockholm, Riga, St. Petersburg, Danzig, Helsinki, Tallinn oder Lübeck ist nur schwer vorstellbar. Viele der Städte gehen zurück auf die Missionierung und Kolonisierung im 11. und 12. Jahrhundert, aus deren Neugründung die Hanse entstand. Ihr Handelsnetz hat vom 12. bis 16. Jahrhundert den wirtschaft­lichen und kulturellen Austausch der Region entscheidend vorangetrieben – bereits die Geschichte des Ostseeraums ist also eine Geschichte der Zusammenarbeit seiner Städte.
Welche Bedeutung haben die Städte heute? 31 Prozent der Bevölkerung in den EU-Anrainerstaaten und Norwegen leben in Großstädten mit mehr als 100.000, weitere 30 Prozent in mittelgroßen Städten über 20.000 Einwohnern. 28 Prozent der Bevölkerung sind in Kleinstädten und die verbleibenden elf Prozent in Landgemeinden zu Hause. Dies ist der ostseeweite Durchschnitt – das Bild unterscheidet sich nur in den einzelnen Staaten leicht, z.B. durch einen höheren Bevölkerungsanteil in Landgemeinden in Dänemark, in Kleinstädten in Polen und in mittelgroßen Städten in Schweden. Im überwiegenden Teil der Anrainerstaaten dominiert die Hauptstadtregion das jeweilige Städtesystem. Die Ausnahmen sind: Deutschland, Polen und Litauen.
Ost-West- und Stadt-Land-Gefälle
Je größer die Stadt, desto stärker wächst derzeit ihre Bevölkerung – das ist grundsätzlich auch im Ostseeraum so. In vielen anderen Gebiets­typen der Region geht sie allerdings zurück, in großen Teilen der baltischen Staaten seit zwei Jahrzehnten sogar um zwei und mehr Prozent im Jahr. Auch das finnische Binnenland, der Nordosten Deutschlands, der periphe­re Osten Polens und „Udkantsdanmark“, also die peripheren Gebiete in Dänemark, schrumpfen jährlich um mehr als ein Prozent. Hauptstadtregionen wie Warschau oder Berlin, aber auch Tallinn, Riga, die Dreistadt um Danzig oder Turku wachsen dagegen kontinuierlich. In den baltischen und polnischen Stadtregionen ist die Entwicklung in den letzten beiden Jahrzehnten durch eine starke Suburbanisierung geprägt, die das nachholt, was in den westlichen und nördlichen Anrainerstaaten bereits früher erfolgt ist.
Die wirtschaftliche Entwicklung im Ostseeraum ist auch dreißig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zweigeteilt. Der Norden und Westen liegen beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (gemessen in Kaufkraftparitäten) im oder über dem EU-Durchschnitt, die baltischen Länder und Polen teilweise deutlich darunter. Bemerkenswert sind neben diesen Ost-West- vor allem aber die Stadt-Land-Gefälle: Das BIP der Einwohner von Warschau und Tallinn befindet sich mittlerweile über dem EU-Durchschnitt (und im Fall der Warschauer Hauptstadtregion auch deutlich über Berlin). Posen, Riga und Vilnius liegen ebenfalls noch leicht darüber. In den ländlichen Regionen Polens beträgt das BIP pro Kopf dagegen nur 50 bis 70 Prozent, im Baltikum 60 bis 80 Prozent des EU-Schnitts.
Diese Stadt-Land-Dichotomie ist im Norden und Westen des Ostseeraums nicht ganz so stark ausgeprägt; hier erreichen die ländlichen Re­gionen in den nordischen Ländern und in Schleswig-Holstein immerhin den EU-Durchschnitt. Interessant ist, dass der Ostseeraum insgesamt ohne langfristige Folgen durch die „große Rezession“ zu Beginn der 2010er Jahre gekommen ist. Anders als in Südeuropa haben die Regionen relativ schnell ihr Ausgangsniveau wieder erreicht und verzeichnen seitdem ein moderates Wachstum. Lettland und einzelne Regionen in Finnland und Litauen bilden die einzigen Ausnahmen.
Die eingangs erwähnte Zusammenarbeit der Städte ist in den letzten Jahrzehnten noch intensiver geworden. Ein anschauliches Beispiel ist die Europäische Route der Backsteingotik. Backstein prägt das Antlitz der Städte im Ostseeraum. Die Europäische Union hat dazu beigetragen, dieses gemeinsame baukulturelle Erbe ins Bewusstsein von immer mehr Menschen zu bringen. Eines der Instrumente dafür ist das transnationale Interreg-Programm für den Ostseeraum, dass seit gut 25 Jahren durch Projektfinanzierungen auch wichtige Anstöße für eine nachhaltige Stadtentwicklung gibt. Anfang der 2000er Jahre wurde durch eine Initiative von Städten, Touristikverbänden, und -unternehmen und Denkmalpflegern zur Schaffung der europäischen Backsteinroute (EuRoB) unterstützt. Das Konzept erwies sich als so erfolgreich, dass die Route auch heute, lange nach Auslaufen der EU-Finanzierung, noch existiert und von den beteiligten Städten selbst getragen wird.
Ein anderes, aktuelles Beispiel für die Unterstützung durch Interreg ist das Projekt AREA21: Behörden, Energieversorger und Bewohner suchen gemeinsam nach Lösungen zur Energieeinsparung, um den CO2-Ausstoß zu verringern. Auch für die Weiterentwicklung der urbanen Mobilität tauschen sich die Ostseestädte aus. Im Projekt cities.multimodal testen unter Rostocker Federführung Aarhus, Tartu, Kalmar, Danzig und weitere Städ­te verschiedene Maßnahmen für eine weniger vom Auto abhängige Mobilität. Beispiele dafür sind Mobilitätsstationen, an denen verschiedene Verkehrsträger verknüpft werden, oder SUMP-Konzepte (Sustainable Urban Mobility Plan) für einen nachhaltigen und an stärker an den Bedürfnissen der Stadtbewohner orientiertem Verkehr. Anders als in anderen europäischen Großregionen kooperieren städtische Akteure im Ostseeraum aber nicht nur projektbezogen, sondern oft auch dauerhaft. Ein Beispiel: die Union of the Baltic Cities (UBC), die derzeit etwa 75 Städte in sieben Ausschüssen verbindet, u.a. mit den Schwerpunkten Nachhaltigkeit, Kultur, Sicherheit oder Jugend. Über die Arbeit in der UBC beeinflussen die Städte die Agenda nationaler und überstaatlicher Organisationen wie des Ostseerats oder der makroregionalen EU-Strategie für den Ostseeraum.
In vielen Phasen waren die Städte des Ostseeraums beispielgebend, ob im Bereich des Handels zu Zeiten der Hanse oder im sozialen Ausgleich während der Industrialisierung. Heute stehen Fragen der Integration, der Mobilität und der Stadt-Umland-Beziehungen im Vordergrund. Es ist gut, dass hierfür die Städte bereit sind – trotz unterschiedlicher Ausgangslage –, einen gemeinsamen Nenner zu suchen und über das Meer hinweg an einer Verbesserung der Lebensverhältnisse ihrer Bewohner zu arbeiten.

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