Bauwelt

Endlich Kino!

Das Pariser Musée d’Orsay zeigt noch bis 16. Januar die Entwicklung der Künste hin zum Kino. Anhand von Gemälden, Fotografien und ersten Bewegtbildern wird nachvollziehbar, dass der Film keineswegs plötzlich erschien.

Text: Landes, Josepha, Berlin

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    Auguste Rodin (1840-1917)
    Pygmalion et Galatée
    1889
    Plâtre (moulage du marbre)
    76 × 82,4 × 73 cm
    Paris, musée Rodin
    Photo : © Agence photographique du musée Rodin – Jerome Manoukian

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    Auguste Rodin (1840-1917)
    Pygmalion et Galatée
    1889
    Plâtre (moulage du marbre)
    76 × 82,4 × 73 cm
    Paris, musée Rodin

    Photo : © Agence photographique du musée Rodin – Jerome Manoukian

Endlich Kino!

Das Pariser Musée d’Orsay zeigt noch bis 16. Januar die Entwicklung der Künste hin zum Kino. Anhand von Gemälden, Fotografien und ersten Bewegtbildern wird nachvollziehbar, dass der Film keineswegs plötzlich erschien.

Text: Landes, Josepha, Berlin

Im Kino mit Renoir, Caillebotte, Rodin – stellen Sie sich das mal vor! Nun, sie alle waren zumindest Zeitgenossen der ersten Bewegtbilder. 1888 drehte der Franzose Louis Le Prince in England den ersten Film: die 3 Sekunden lange „Roundhay Garden Scene“. Ob sie die gesehen haben, steht in den Sternen. Caillebot erlebte jedenfalls nicht mehr, wie die Brüder Lumière 1905 im Pariser Grand Café die erste Kinovorführung ausrichteten – Filmschauen gegen Bezahlung. Diese Punkte gehören zur üblichen Erzählweise über die Anfänge des Kinos.
Das Pariser Musée d’Orsay setzt früher an. Noch bis zum 16. Januar läuft im Museum für Kunst des späten 19. Jahrhunderts eine Schau, die Renoir, Caillebotte, Rodin und anderen bildenden Künstlern eine wesentliche Rolle als Wegbereiter des Films einräumt. „Enfin le Cinema“ ist überraschenderweise nämlich tatsächlich so aufgebaut, wie der Name verspricht: Erst am Ende steht das Kino, am Anfang eine strahlend weiße Skulptur gegen die schwarze Wand des Eröffnungskompartiments der Schau. Der Bildhauer Rodin formte 1889 den Bildhauer Pygmalion, der seine Skulptur Galatea durch einen Kuss erweckt – das Statische zum Dynamischen macht, das Tote mit Leben füllt. „Das Leben selbst“ sei Kino, so die These, mit der die Kuratoren die Gäste willkommen heißen.
Die Exponate sind in einer sich farblich in Kapitel gliedernden, sich schlängelnden Raumfolge arrangiert. Hinter Rodin beginnt das „Spektakel der Stadt“ mit den „Städtischen Zuschauern“. Blicke auf das Paris vor der Wende zum 20. Jahrhundert, etwa ein Blick vom Trocadéro auf den Champ de Mars noch ohne Eifelturm und ein weitgehend freies Seine-Ufer verblüffen und machen den Schock nachvollziehbar, mit dem die Mobilisierung der Moderne über die Menschen rollte. Die Bewegung der Stadt sieht man in diesem Ausstellungsraum eingefangen in Ausschnitten, die zeitlich nebeneinander sortiert sind – das Wachsen des Stahlgerüsts des Eiffelturm im Vorfeld der Weltausstellung (1887 bis ’89) – oder aber mit Pinsel und Farbe in einem einzigen Bild wiedergegeben.
Caillebottes „Le Pont de L’Europe“ (1876), Teil einer Serie, deren Einzelbilder als Szenen gelesen werden könnten, fängt wie ein „Shot“ von heute einen eher beiläufigen Moment der Passage dreier Herrn über eine Eisenbahnbrücke ein. Da sich die Kleidung der Figuren ähnelt, die nur seitlich oder von hinten abgebildet sind, also anonym bleiben, könnte es sich bei ihnen sogar um ein und denselben Mann, versetzt um Sekundenbruchteile handeln.
Auch Pissaros wuselige Vogelperspektive auf „La Place du Théâtre Français“ vermittelt dieses andauernde Forteilen durch die faserigen Kanten, die jeden der kleinen Passanten überhaupt nur halbherzig vom ockerfarbenen Belag der Straße abgrenzen. Ein Verschwimmen der Individuen mit der Stadt, ein entrückter Blick des Künstlers, ein unmöglicher, überhöhter Blick, hält Einzug.
Blicke, die auch dank des neuen Mediums „Fotokamera“ überhaupt erst entdeckt wurden, Blick auf Zwischenzustände, nicht vollendete Motive, auf die Übergänge zwischen den Posen. Und Blicke in Maßstäbe, die zuvor unerreichbar waren für das menschliche Auge: Von oben und von innen. Im Raum „Bewegungen der Natur“, der zu „Zeit sichtbar machen“ überleitet, treten neben ein Caillebotte-Bild von im Wind wehender Wäsche experimentelle fototechnische Abbildungen von Wurzeln, Pulsschlägen, Blitzen, Langzeit- und Mehrfachbelichtung menschlicher Bewegung und das Meer, die Gischt brandender Wellen. In einer Vitrine ist die Bronze einer Möwe ausgestellt, die siebzehn ihrer selbst ist, an der jeder Flügelschlag eines Zyklus nachvollziehbar wird.
Überleitung, „Den Körper in Frage zu stellen“. Hier, im Abschnitt mit dunkelgrünen Wänden, flimmern versatzstückhafte Filmkollagen, wie sie etwa von Méliès hergestellt wurden, und liegen Fotoverfremdungen aus – zum Beispiel Männer, die ihren Kopf unterm Arm tragen oder jonglieren. Ein mehrteiliges mannshohes Gemälde hängt da, auf dessen schmalen Leinwänden sich Arbeiter, als Einzelfiguren oder zu kleinen Gruppen gesammelt – wohin? In eine Fabrik womöglich – schleppen. Die Geburtsstunde des Kinos war die Zeit der galoppierenden Industrialisierung und Urbanisierung. Die überschaubaren Seine-Ufer würden es bald schon nicht mehr sein, in den Hinterhöfen hing der Dreck der Maschinen, innerstädtische Viertel waren Slums – und die Künstler malten zerrissen zwischen bukolischen Flussauen und urbanem Wirrwarr doch immer ein cineastisches Motiv – alles außer Stillstand.
Der Film, ehe er schließlich das Kino findet, reizt für eine kurze Zeit das Vakuum aus, das ihm im Varieté noch bleibt. In Méliès‘ Reise zum Mond sind die Motive des Schautanzes gar auf Celluloid gebannt Teil der Phantasie eines Ausflugs mit Rakete. Die Frauen tragen kecke Uniformen, und es fehlt wenig, sie rissen die Beine nach oben, die alten befrackten Herren höchstselbst von der Erde zu katapultieren. Dass Film schon sehr früh auch pornös war, behandeln sie im Orsay unter dem „Voyeuristischen Blick auf den weiblichen Körper“ in einem weinroten Séparée. Einer Dame ist beim Entkleiden zuzusehen, am Ende ist sie ein Herr.
Dem abschließenden „Kinosaal“, wo Besucher Zuschauern ins Gesicht sehen, ein Film aus Perspektive der Leinwand vorgeführt wird, gibt es noch großformatige Gemälde zu bestaunen. „Geschichten auf Leinwand“ heißt jener Saal, der theatralische Szenen vereint, wie sie die Filme der Anfangsjahre gern thematisierten: eine heimtückische Kleopatra, der ermordete Maret, Soldatenaufstand. Historienmalerei, gigantesk aber wenigsagend.
Spannend wird es dann wieder, wenn die Ausstellung endet: Im Kino, mit dem Jahr 1913: Das Publikum lacht uns entgegen in einem Saal von Léonce Perret. Zu der Zeit leben Rodin und Renoir noch. Ob sie unter den Schaulustigen sind?


Enfin le Cinéma
Musée d’Orsay, Esplanade Valéry Giscard d'Estaing, 75007 Paris
www.musee-orsay.fr
bis 16. Januar


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