Bauwelt

Freiheit im Schlusslichtland

Ulrich Brinkmann empfiehlt einen wertschätzenden Blick auf die Dystopien der deutschen Gegenwart.

Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin

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Freiheit im Schlusslichtland

Ulrich Brinkmann empfiehlt einen wertschätzenden Blick auf die Dystopien der deutschen Gegenwart.

Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin

Eine Fahrt ins Ausland liefert Erkenntnisse nicht nur mit Blick auf das Reiseziel, sondern auch auf Zuhause. Beispiel 1: Rückfahrt mit dem Auto von Latium, mit Zwischenstopps in Perugia, Pistoia und Modena. Erste Nacht in Deutschland: Memmingen. „Alte Reichsstadt“ schwärmt Wikipedia, „eine der schönsten Städte Süddeutschlands“, ist an anderer Stelle zu lesen. Ich war noch nie dort, buche das Hotel mit Vorfreude auf eine alte deutsche Stadt nach all der vorzeigepatinierten Idealurbanität Italiens. Umso größer die Enttäuschung: In Memmingen zeigt sich jenes elende Mittelstadtmittelmaß, das in so vielen Orten der alten BRD zu beweinen ist: lieblose Altbausanierungen, durchgeführt nach dem Motto „so billig wie möglich“ und zu keiner Patinierung mit Würde in der Lage; Neubauten ohne jeden Anspruch, Werbeanlagen, denen jedes Feingefühl abgeht, ein öffentlicher Raum, gestaltet mit dem Anschein größter Gleichgültigkeit, dazu Leerstand und ansonsten Filialisten – nichts, woran das Auge hängen bliebe, nichts, was den Reisenden halten könnte. Am nächsten Morgen verliere ich keine Minute, um von dort wegzukommen.
Beispiel 2: Rückfahrt mit der Bahn aus den Niederlanden, mit Zwischenstopp in Herne. Wo zuvor alle Menschen glücklich, dynamisch, durchtrainiert, gesund ernährt und hoch effizient jeden Quadratzentimeter Land zu einer einzigen Hochleistungsmaschinerie programmieren – alles smart und chic, wohin man kommt, selbst die Vorortbahnhöfe in Industriestädten stehen da wie aus dem Ei gepellt -, weht sofort nach Grenzübertritt der Anhauch von Verwahrlosung, Stillstand und Niedergang. Im Bahnhof Herne wähne ich mich endgültig in die fünfziger Jahre zurückgebeamt; rieche den Qualm der unzähligen Zigaretten, der sich hier in Jahrzehnten ins Mörtelwerk der Klinkermauern gesetzt hat, sehe die von tausenden Arbeiterstiefeln ausgetretenen Werksteinstufen in der Abendsonne, frage mich, wie viele Henkelmänner hier schon gegen die gusseisernen Stützen geschlagen sein mögen, die das hölzerne Bahnsteigdach tragen. Und erkenne plötzlich die Möglichkeitsräume in all dem vom Zeitgeist unberührt Gebliebenen. Deutschlands Westen wartet, auf Entdecker, Ideen, Gestalter.

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