Hauptstadthochmut
Die neue Halbinsel Lynetteholm soll Kopenhagen vor dem Anstieg des Meeresspiegels schützen und den Grundstein für die weitere Stadtentwicklung legen. Kritiker halten das Projekt für eine tickende Zeitbombe.
Text: Ifversen, Karsten, Kopenhagen
Hauptstadthochmut
Die neue Halbinsel Lynetteholm soll Kopenhagen vor dem Anstieg des Meeresspiegels schützen und den Grundstein für die weitere Stadtentwicklung legen. Kritiker halten das Projekt für eine tickende Zeitbombe.
Text: Ifversen, Karsten, Kopenhagen
Ende März hat die Klimabewegung eine erste Klage gegen die Landgewinnung verloren.
Lynetteholm soll den wertvollen Baubestand Kopenhagens sichern, darunter auch die königliche Residenz Amalienborg. Doch die Stadt Kopenhagen und der dänische Staat setzen mit der laufenden Errichtung der künstlichen Halbinsel vor der Einfahrt zum Hafen viel aufs Spiel; das 275 Hektar große Stück Land entsteht in tiefem Wasser, und die große Frage der Kritikerinnen ist, ob das schwerwiegende Folgen für die Meeresumwelt der Ostsee haben wird. Dies behauptet unter anderem der Verein „Klimabevægelsen“, der eine Klage gegen den dänischen Staat eingereicht hat. Der Verein geht davon aus, dass in der bisherigen Umweltverträglichkeitsprüfung der Salzfluss in die Ostsee nicht ausreichend berücksichtigt wurde.
Der Grund, warum Kommune und Staat sich nicht damit begnügen, die Stadt mit einem schmalen Deich zu sichern, sondern einen „dicken Pfropfen“ bauen: Lynetteholm soll mehr Zwecken als nur dem Schutz vor den Folgen des Klimawandels dienen. Die Halbinsel wird politisch als eine eierlegende Wollmilchsau bezeichnet, weil sie drei Probleme auf einmal löst: Staus, Wohnungsmangel und Sturmflut. Und das, ohne die Bürger auch nur einen Cent zu kosten. Tatsächlich aber gibt es einen vierten Zweck: Die Halbinsel soll Erde aus den zahlreichen Bauprojekten der Stadt aufnehmen. Obwohl es negative Folgen für das Klima hat, dass wir bei jedem Bau nach wie vor so viel Erde ausheben, ist es immer noch besser, den Aushub lokal zu deponieren. By & Havn ist ein öffentliches Entwicklungsunternehmen von Kopenhagen, das sowohl für den Bau als auch für die Stadtentwicklung auf Lynetteholm verantwortlich ist. Das Unternehmen verdient also Geld sowohl durch den Erdaushub selbst als auch durch dessen Wiederverkauf in Form von parzellierten Grundstücken.
Die Stadt Kopenhagen geht davon aus, dass das seit den 1990er Jahren ungebremste Bevölkerungswachstum anhalten wird. Ein großer Teil des Wachstums ist darauf zurückzuführen, dass junge Menschen für das Studium in die Stadt kommen, aber im Gegensatz zu früher auch bleiben, wenn sie Kinder bekommen. 2070 soll Lynetteholm Wohnraum für 35.000 Menschen und 35.000 Arbeitsplätze bieten. Allerdings sinkt die Geburtenrate drastisch. Derzeit bekommen Frauen in der Hauptstadt durchschnittlich nur 1,3 Kinder, und das dänische Statistikamt prognostiziert, dass dies – ohne Zuwanderung – bis 2100 eine Halbierung der Bevölkerung bedeuten wird. Die treibenden Kräfte hinter Lynetteholm sind also zuversichtlich, dass die Stadt für Neuankömmlinge immer attraktiver wird.
Meersalz
Eines der Argumente für Lynetteholm war, dass es den Ausbau des ÖPNV, explizit der Metro, finanzieren könnte und dass ein Teil des Autoverkehrs zwischen Nordseeland und dem Flughafen von Kopenhagen um die Stadt herum und in einen Hafentunnel gelenkt werden kann. Der vierspurige Autotunnel und eine neue Metro-Linie wären dann die primären Verbindungen nach Lynetteholm. Verkehrsforscher sagen jedoch, dass das Projekt stark unterdimensioniert sei. Es misst nur ein Viertel der Kapazität der vergleichbar großen New Town Ørestad, wo, noch bevor der Stadtteil voll entwickelt ist, die Verkehrsarterien ihre Schmerzgrenze in den Spitzenzeiten erreicht haben.
Es ist aber das Ökosystem des Meeres, das der Klimabewegung am meisten Sorgen macht und dessentwegen sie den Staat verklagt hat. Stiig Markager, Professor für Ökologie an der Universität Aarhus, hat in seinem Buch „Nachdenken – Alternativen zu Lynetteholm“ (Strandberg Publishing 2023) vor der Platzierung der Insel so weit im Osten gewarnt. Lynetteholm decke Kongedybet ab, eine der wenigen tiefen Rinnen im Øresund und Storebælt, die die Ostsee mit Salz aus dem Kattegat versorgt.
Die regionalen Folgen der verminderten Salzversorgung wurden nicht untersucht. Sie werden im Laufe der Zeit eine marine Umweltkatastrophe auslösen, meint der Professor. Die Nachbarn Dänemarks könnten vor Gericht ziehen, wenn Flora und Fauna aufgrund von zu niedrigem Salzgehalt in der Ostsee absterben – obwohl dies auch aus anderen Gründen geschehen kann, wie zum Beispiel durch die Erhöhung der Regenwassermengen. Allein der Bau von Lynetteholm gäbe den Ostseeländern einen berechtigten Grund, Entschädigungsansprüche gegen Dänemark zu erheben. Genau deshalb glauben Markager und die Klimabewegung, dass Dänemark auf der Grundlage eines Vorsichtsprinzips hätte handeln müssen. Wenn Lynetteholm halb so breit entworfen worden wäre, hätten die Probleme begrenzt werden können.
Neubau statt Nachverdichtung
Gleichzeitig ist aus Sicht der Nachbarkommunen nicht ganz klar, warum die Stadt Kopenhagen so viel in die Entwicklung der Hauptstadt innerhalb ihrer eigenen Grenzen investiert. Stattdessen hätte sie mit den Vorstädten zusammenarbeiten können, um deren verstreuten Wohnungsbestand zu verdichten, funktionsentleerte Gewerbegebiete umzuwandeln und die Vororte durch den Ausbau der vorhandenen Infrastruktur attraktiver zu machen. Es wäre klimaschonender und aus sozioökonomischer Sicht günstiger gewesen.
Der Prozess gegen den dänischen Staat wird mehrere Jahre dauern. Die Klimabewegung hatte gehofft, dass die Ernsthaftigkeit und der Grundsatzcharakter der Klage die sofortige Einstellung der Bauarbeiten bewirken würden. Das Urteil im Schnellverfahren wurde jedoch gerade gefällt, und von einem Baustopp ist nicht die Rede. Hunderte von Lastwagen werden weiterhin Erde in den aufgestauten Gebieten abladen, während der Kampf um die Salzpumpe der Ostsee weitergeht. Mit jedem entleerten Lastwagen erscheint es unwahrscheinlicher, dass die Entscheidung rückgängig gemacht wird – oder werden kann.
Aus dem Dänischen von Marie Bruun Yde
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