Bauwelt

Im Westen was Neues

In München wächst gerade Europas größtes Neubaugebiet aus dem Boden. Besuch in Freiham, einem Stadtteil auf der grünen Wiese, der durchmischt, grün und urban sein will

Text: Russ, Alexander, München

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Europas größtes Neubaugebiet: Auf etwa 350 Hektar soll bis 2040 „Freiham“ entstehen – Münchens jüngster Stadtteil für 25.000 Menschen. Architektonische Qualität findet man vor allem bei den genossenschaftlich organisierten Projekten.
Foto: Alexander Russ

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Europas größtes Neubaugebiet: Auf etwa 350 Hektar soll bis 2040 „Freiham“ entstehen – Münchens jüngster Stadtteil für 25.000 Menschen. Architektonische Qualität findet man vor allem bei den genossenschaftlich organisierten Projekten.

Foto: Alexander Russ


Im Westen was Neues

In München wächst gerade Europas größtes Neubaugebiet aus dem Boden. Besuch in Freiham, einem Stadtteil auf der grünen Wiese, der durchmischt, grün und urban sein will

Text: Russ, Alexander, München

Man muss es eigentlich nicht mehr erwähnen: München ist Spitzenreiter in Sachen Wohnungsnot. Allerdings zieht der Rest der Republik seit geraumer Zeit kräftig nach. Das Wahlversprechen von Olaf Scholz, zukünftig jährlich 400.000 neue Wohnungen zu bauen, davon 100.000 Sozialwohnungen, ist gescheitert. Die Gründe – hohe Baukosten, Lieferengpässe, Inflation, Fachkräftemangel, fehlende Planungssicherheit – sind bekannt, die Lösungsansätze weniger. Scholz brachte inzwischen das Bauen auf der grünen Wiese ins Spiel, womit man wieder bei München und seinem städtebaulichen Konzept der Entlastungsstadt aus den 1960er Jahren wäre. Ein aktuelles Beispiel ist Freiham. Dabei handelt es sich nicht nur um den jüngsten Stadtteil der bayerischen Metropole, sondern auch um Europas größtes Neubaugebiet. Zukünftig sollen hier, am westlichsten Zipfel der Stadt, über 25.000 Menschen auf einer Fläche von 350 Hektar leben und arbeiten.
Das Areal unterteilt sich in zwei Bereiche: ein Gewerbegebiet im Süden und ein Wohnquartier im Norden, das im Westen von der Autobahn A 99 West begrenzt wird. Im Nordosten befindet sich der Stadtteil Neuaubing. An der Schnittstelle von Gewerbe und Wohnen liegt der S-Bahn-Halt Freiham. Dort schließt auf Wohnquartiersseite ein im Bau befindliches Stadtteilzentrum an, das zukünftig als städtisches Entree für Freiham dienen soll. Vier Gebäude, darunter ein Hochhaus mit 18 Geschossen, umgrenzen einen zentralen Platz und eine Fußgängerzone, die in das Wohnquartier übergeht. Während für die unteren Etagen Einzelhandel, Gastronomie und Dienstleistungen vorgesehen sind, beinhalten die oberen Geschosse Mietwohnungen, ein Hotel und Büroflächen.
Der Entwurf stammt von Störmer Murphy and Partners, die in der Sockelzone monumentale Arkaden aus expressiv geformten Betonteilen anord-neten, um großstädtisches Flair auf der grünen Wiese zu erzeugen. Direkt daneben, Richtung Westen, befindet sich der sogenannte Bildungscampus Freiham von Schürmann Dettinger Architekten und Auer Weber, der bereits 2019 fertiggestellt wurde. Er umfasst verschiedene Schulen, ein sonderpädagogisches Förderzentrum und diverse Sportanlagen. Als verbindendes Element verläuft ein grünes Band mit verschiedenen Aufenthaltsbereichen zwischen den einzelnen Gebäuden. Zusammen mit der pavillonartigen Architektur bietet der Campus eine lockere und einladende Atmosphäre.
Zur Grünplanung zählt ein etwa 60 Hektar großer Landschaftspark, der auf einen Wettbewerb zurückgeht, den Lützow 7 Landschaftsarchitekten gewannen. Er soll ab 2027 realisiert werden und das Wohnquartier im Westen zur Autobahn abgrenzen. Weitere grüne Bänder ziehen sich laut Bebauungsplan nach der avisierten Fertigstellung bis 2040 durch das Areal. Bereits umgesetzt ist ein Grünband im Osten, das als Verbindungselement zwischen Freiham Nord und Neuaubing dient. Bislang präsentiert sich das Wohnquartier größtenteils als eine mit Bauzäunen unterteilte Betonwüste, die abrupt in flurbereinigte Flächen übergeht. Strukturiert wird das Ganze durch Wohnparzellen. Im ersten Realisierungsabschnitt, der gerade umgesetzt wird, handelt es sich um eine mal mehr und mal wenigerperforierte Blockstruktur mit Innenhöfen. Die durchschnittliche Dichte ist mit einer Geschossflächenzahl (GFZ) von 1,7 deutlich höher als in Münchens zweitjüngster Stadterweiterung, der Messestadt Riem aus den 1990er Jahren, mit einer GFZ von 1,2. Auf den Parzellen sind verschiedene Gebäudetypen mit einer Höhe von vier bis zu acht Stockwerken platziert. Dazu zählen unter anderem klassischer Geschosswohnungsbau, Reihen- und Atriumhäuser, aber auch Nachbarschaftstreffs, diverse Kindertageseinrichtungen, Gewerbeflächen und eine Quartiersmitte mit Hotel, Büros, Nahversorgung und Stadtteilkulturzentrum. Ein zweiter Realisierungsabschnitt soll ab 2028 umgesetzt werden, dort entstehen neben Wohngebäuden weitere Kitas, Schulen und ein Familienzentrum.
Damit das alles bezahlbar bleibt, wurden die Grundstücke in mehreren Abschnitten zunächst an kommunale Wohnungsbaugesellschaften und anschließend an Baugenossenschaften, Baugemeinschaften und Bauträger für preisgedämpfte Mietwohnungen im Erbbaurecht vergeben. Möglich ist das, weil sich der Boden im Besitz der Stadt befindet. So kostet die Miete in zwei Wohnbauten von Studio HX Architekten, die gleichzeitig auch Projektentwickler sind, jeweils 10,48 und 12,50 Euro pro Quadratmeter. Zudem werden hier 60 Prozent der Wohnungen an Menschen aus Mangelberufen oder mit einem Einkommen unter einer definierten Schwelle vergeben. Ein von der Stadt München umgesetztes Projekt kombiniert gefördertes Wohnen mit einer Kindertageseinrichtung und einem Männerwohnheim. Wer bei einer derart ambitionierten Mischung an die Projekte von Michael Maltzan in Los Angeles denkt, wird allerdings enttäuscht. Vielmehr steht das fünf- bis siebengeschossige Gebäudeensemble von Dressler Mayerhofer Rössler Architekten für ein Problem, das einen großen Teil von Freiham Nord bislang kennzeichnet: die Monotonie, die durch die Aneinanderreihung von Kisten mit Lochfassade entsteht. Da helfen auch unterschiedliche Gebäudehöhen, Vor- und Rücksprünge oder eine Mischung aus Klinker und Putz in verschiedenen Rottönen wenig.
Dass die interessantesten Beiträge im Münchner Wohnungsbau oft von Genossenschaften kommen, beweist ein Projekt in unmittelbarer Nachbarschaft: wagnisWEST übersetzt den Gedanken der Durchmischung in ein kleines Dorf mit sieben polygonal geschnittenen Häusern. Dort gibt es nicht nur Wohnungen, sondern auch ein Waschcafé, eine Werkstatt, einen Kindertreff, Gastronomie, Gästeapartments, Büros und Gemeinschaftsräume. Bauherren sind die beiden Genossenschaften wagnis eG und München-West, die in Abstimmung mit der Stadt erstmal den Bebauungsplan ändern mussten, um den Entwurf von AllesWirdGut umsetzen zu können. Die einzelnen Gebäude gruppieren sich um mehrere Außenräume, die durch verschiedene Nutzungen im Erdgeschoss zusätzlich bespielt werden. Damit das Ganze ohne Feuerwehrzufahrt funktioniert, docken Fluchttreppen und Brücken an die drei- bis sechsgeschossigen Häuser an. Sie funktionieren gleichzeitig als Erschließung für die Wohnungen und bieten zusätzliche Aufenthaltsbereiche als vertikale Verlängerung der Erdgeschosszone. Das Projekt zeigt exemplarisch, dass Durchmischung und Nachbarschaft nicht allein durch ein Raumprogramm entstehen können, sondern durch neue Ideen und deren konsequente Umsetzung. Das müsste man mal dem Kanzler sagen.

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