Der Spitzturm
Sebastian Redecke erläutert die Geschichte des eingestürzten Vierungsturmes von Notre-Dame de Paris und wirft einen Blick auf die britische Kanalinsel Guernsey
Text: Redecke, Sebastian, Berlin
Der Spitzturm
Sebastian Redecke erläutert die Geschichte des eingestürzten Vierungsturmes von Notre-Dame de Paris und wirft einen Blick auf die britische Kanalinsel Guernsey
Text: Redecke, Sebastian, Berlin
Man nannte ihn den Gotiker: Eugène Viollet-le-Duc (1814–1879), Restaurator und Architekt aus Paris. Richtiger wäre natürlich „Neogotiker“. Viollet-le-Duc vertiefte sich nicht nur in Gewölbe- und Strebepfeilerkonstruktionen (und erfand dabei Restaurierungstechniken für mittelalterliche Baudenkmäler), sondern auch in die Welt steil aufragender Türme nach alten Vorbildern. Es ist interessant zu erfahren, dass der von ihm entworfene Vierungsturm von Notre-Dame nichts mit dem rund 800 Jahre alten Gemäuer und Dachstuhl zu tun hat. Der spitze Turm fing bei dem Großbrand vom 15. April dieses Jahres schnell Feuer und stürzte durch das Gewölbe ins Kirchenschiff – es war der größte Schreckmoment der Katastrophe. Dies konnte geschehen, da der 93 Meter hohe 250-Tonnen-Turm aus Holz gebaut und mit Blei verkleidet war, eine stolze Neuerung des 19. Jahrhunderts. In der Bibliothek der ETH Zürich werden Zeichnungen Viollet-le-Ducs aufbewahrt, man findet sogar ein Blatt mit dem Vorschlag einer Überformung der Doppeltürme der Kirche mit „Spitzen-Gotik“ (siehe Abbildung auf Seite 2). Basis des Revivals der Kathedrale war der 1831 erschienene historische Roman „Der Glöckner von Notre-Dame“ von Victor Hugo. Zuvor war Notre-Dame, die während der Französischen Revolution gelitten hatte, ziemlich ramponiert. Der Milliardär François Pinault war nun am Morgen des 16. April der erste, der sich meldete, er wolle 100 Millionen Euro für ein neues Dach zur Verfügung stellen. Kurz darauf haben Frankreichs Milliardäre insgesamt eine Milliarde versprochen, so dass man mit dem vielen Geld alles noch imposanter gotisch ergänzen könnte. Emmanuel Macron erwähnte in seiner Rede am gleichen Tag einen Architekturwettbewerb. Soll Viollet-le-Ducs Turm anders, im Geist unserer Zeit wiedererstehen? Große Architekten haben bereits Ideen dazu. Dagegen wird es Proteste geben. Sicher wäre das auch nicht im Sinne von Geldgeber Pinault. Der ist zwar ein passionierter Sammler zeitgenössischer Kunst, liebt ansonsten aber Altes. Zuletzt hat er die vier Millionen Euro für die Restaurierung des „Victor Hugo House“ auf der britischen Kanalinsel Guernsey übernommen. Dort gibt es keine Neogotik, dafür aber Neo-Renaissance, -Barock und -Orientalismus. Victor Hugo wollte das so und hat das hölzerne Schnitzwerk auch selbst entworfen. So passt alles zusammen.
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