Mehr Geschichte wagen
In Leipzig wurde der städtebauliche Wettbewerb für die Entwicklung des einstigen Stasi-Areals auf dem Matthäikirchhof entschieden. Das Ergebnis sollte nochmal überdacht werden.
Text: Bartetzky, Arnold, Leipzig
Mehr Geschichte wagen
In Leipzig wurde der städtebauliche Wettbewerb für die Entwicklung des einstigen Stasi-Areals auf dem Matthäikirchhof entschieden. Das Ergebnis sollte nochmal überdacht werden.
Text: Bartetzky, Arnold, Leipzig
So eine Chance bietet sich selten in Deutschlands Großstädten. Im Zentrum von Leipzig erstreckt sich noch eine Entwicklungsfläche von fast zwei Hektar Ausdehnung, die sich größtenteils in kommunalem Eigentum befindet. Die Stadt kann also weitgehend selbst entscheiden, was hier passieren soll. Es ist eine Entscheidung von besonderer Tragweite. Denn das Areal am Matthäikirchhof ist nicht irgendein Ort in der Innenstadt. Es ist der älteste Siedlungskern Leipzigs mit einer über tausendjährigen Kulturgeschichte – und zugleich der einstige Standort der Bezirkszentrale der DDR-Staatssicherheit. Für deren wachsenden Raumbedarf wurden in den 1980er-Jahren Erweiterungsbauten errichtet, die heute weitgehend leer stehen. Es sind um einen abgeschirmten Innenhof angeordnete, funktionalistische Betonriegel, die an eine Festung denken lassen.
Dem Umgang mit diesem sperrigen und für einen Teil der Bevölkerung mit unangenehmen Erinnerungen behafteten Bauerbe galt das besondere öffentliche Interesse während des zweiphasigen städtebaulichen Wettbewerbs, dem ein aufwendiges Bürgerbeteiligungsverfahren vorausgegangen war. Die Stadt verknüpfte die Frage nach der Zukunft des Stasi-Areals aber mit der Entwicklung einer angrenzenden Kriegsbrache. Einigkeit herrschte darüber, dass hier nicht noch ein Einkaufszentrum, ein Büro- oder Hotelkomplex entstehen soll. Als Bausteine für den künftigen Matthäikirchhof wurden das sächsische Stasi-Unterlagenarchiv und ein bisher etwas nebulös gebliebenes „Forum für Freiheit und Bürgerrechte“ gesetzt. Für den Rest der Fläche ist eine gemeinwohlorientierte Nutzungsmischung vorgesehen – wenig Kommerz, viele öffentliche Räume, soziokulturelle Angebote und ein hoher Anteil an gefördertem Wohnraum.
Die Wettbewerbsjury unter Leitung von Markus Neppl befand, dass der Entwurf des Stuttgarter Büros Riehle Koeth der komplexen Aufgabenstellung am besten gerecht werde. Zu seinen Stärken gehören maßstäbliche Plätze, schlüssige Wegebeziehungen und eine kleinteilige Wohnbebauung mit großzügigen Innenhöfen in traditioneller Blockrandtypologie. Städtebaulich überzeugend ist auch der für ein Jugendgästehaus vorgesehene Neubau, der mit einem gegenüberliegenden Bürogebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert einen halboffenen Innenhof bildet. Das zentrale Element der Planung ist ein Solitär, den sich das Freiheitsforum mit dem Stasi-Unterlagenarchiv teilen soll. Die Funktionsverbindung erscheint sinnvoll, der Bau wirkt im städtebaulichen Entwurf allerdings uninspiriert und soll Gegenstand eines separaten Architekturwettbewerbs werden.
Überraschend ist die Entscheidung der Jury angesichts der offenkundigen Schwäche des Entwurfs im Umgang mit dem Bestand aus den 80er-Jahren. Die Architekten schlagen einen Teilerhalt vor, der sich allerdings nur auf ein Drittel der Bausubstanz beschränkt. Es bleibt nicht mehr als ein gestutzter Riegel der Stasi-Zentrale übrig, der zudem grundlegend umgebaut werden muss. So soll die völlig ungestaltete Hofseite zur Schaufront an einem neu entstehenden Platz umfunktioniert werden, während die Fassade mit Betonformsteinen der Künstler Karl-Heinz Adler und Friedrich Kracht – den markantesten baukünstlerischen Elementen des kargen Komplexes – zur versteckten Rückseite im Innenhof der angrenzenden Wohnbebauung wird.
Das läuft eher auf Bauen gegen als Bauen mit dem Bestand hinaus. Es ist erstaunlich, dass die Jury den Erhalt eines so kleinen Fragments, das ohnehin wie ein Feigenblatt wirkt und von dem nach dem Umbau noch viel weniger übrig bleiben dürfte, als einen ressourcenschonenden Ansatz zur Erhaltung grauer Energie bewertet hat. Mehrere Entwürfe, die es in die zweite Phase des Wettbewerbs geschafft hatten, gingen in diesem Punkt deutlich weiter und zeigten sich damit auf der Höhe der Debatten um ökologische Verantwortung der Architektur. Das gilt auch für den zweitplatzierten Beitrag von FAM Architekten aus München, der einen weitgehenden Erhalt der 80er-Jahre-Bauten vorsieht. Wie mehrere andere Wettbewerbsteilnehmer erkannten FAM Architekten das Potenzial des von den winkelförmig angeordneten Bauten gebildeten abgeschirmten Innenhofs, der sich heute als triste Betonwüste darbietet, aber mit überschaubaren Eingriffen geöffnet und zu einem attraktiven Ort der Begegnung entwickelt werden könnte. „Bauen muss vermehrt ohne Neubau auskommen. Priorität kommt dem Erhalt und dem materiellen wie konstruktiven Weiterbauen des Bestehenden zu und nicht dessen leichtfertigem Abriss.“ Mit diesem Postulat im Positionspapier „Haus der Erde“ bekennt sich auch der BDA unmissverständlich zu Klimaschutz und Ressourcenschonung. Der Entwurf von FAM Architekten böte die Chance, mit diesem Vorsatz endlich an einem modellhaften Projekt Ernst zu machen.
Ein weiterer Vorzug dieses Entwurfs liegt im Umgang mit dem historischen Zeugniswert des Bestandes. Durch den Erhalt der städtebaulichen Struktur bliebe die Ausdehnung des einstigen Überwachungsapparats im Stadtraum anschaulich. Der Komplex würde weiterhin an die Macht der Stasi erinnern, obwohl er – und darin läge eine schöne Symbolik – freundlich gestaltet und zu einem Ort demokratischer Öffentlichkeit umprogrammiert wäre.
Der zweitplatzierte Beitrag wäre deshalb sowohl baukulturell und ökologisch als auch erinnerungspolitisch die bessere Lösung. Wird der erstplatzierte Entwurf von Riehle Koeth umgesetzt, besteht immerhin die Chance auf Erhalt einiger Originaldetails im übrigbleibenden Rest des Stasi-Riegels, vom Paternoster über Kunst am Bau bis zur Büroeinrichtung des Stasi-Bezirkschefs. Dazu müssten die Architekten aber zunächst eine Sensibilität für die historische Bedeutung des Baus entwickeln, den sie im Erläuterungsbericht ihres Entwurfs noch in frappanter Ignoranz als „SED-Verwaltungsbau“ bezeichnen.
Die historische Bedeutung des Matthäikirchhofs beschränkt sich allerdings nicht auf die wenige Jahrzehnte dauernde Besetzung durch die Stasi. Denn hier befand sich die Keimzelle der Stadt, deren bis ins Mittelalter zurückgehende archäologische Spuren im Erdreich am Standort des geplanten Forums- und Archivbaus nachgewiesen sind – und von Fachleuten in einem noch größeren Umfang vermutet werden. Nachdem das Thema im Wettbewerb leider kaum eine Rolle gespielt hat, muss sichergestellt werden, dass der weiteren Planung sorgfältige Ausgrabungen vorausgehen und die Befunde nicht zerstört, sondern gegebenenfalls im Neubau sichtbar gemacht werden. Nachdem die Stasi das Areal ohne Rücksicht auf Geschichte überbaut hat, sollte es nicht passieren, dass die letzten Spuren der Wiege Leipzigs für einen Bau zur Aufbewahrung von Stasi-Hinterlassenschaften beseitigt werden.
Offener zweiphasiger städtebaulicher Realisierungswettbewerb
1.Preis (24.000 Euro) Riehle Koeth, Stuttgart mit Levin Monsigny Landschaftsarchitekten, Berlin
2.Preis (18.000 Euro) FAM Architekten, München mit Studio Erde, Berlin
3.Preis (12.000 Euro) SERO Architekten, Leipzig; KOLLEKTIV B Keul & Gamböck GbR, Leipzig, mit Rainer Schmidt Landschaftsarchitekten, München; B+G Ingenieure Bollinger und Grohmann, Frankfurt a.M.
4.Preis (6.000 Euro) hinrichsmeyer + partner architekten mit Greenbox Landschaftsarchitekten, beide Stuttgart
Ausloberin
Stadt Leipzig, Stadtplanungsamt
Stadt Leipzig, Stadtplanungsamt
Fachpreisjury
Kirstin Bartels, Thomas Dienberg, Marta Doehler-Behzadi, Anne Femmer, Matthias Fuchs, Heiko Kuppardt, Markus Neppl, (Vorsitz) Jórunn Ragnarsdóttir, Till Rehwaldt, Eike Roswag-Klinge, Matthias Rottmann, Amandus Samsøe Sattler
Kirstin Bartels, Thomas Dienberg, Marta Doehler-Behzadi, Anne Femmer, Matthias Fuchs, Heiko Kuppardt, Markus Neppl, (Vorsitz) Jórunn Ragnarsdóttir, Till Rehwaldt, Eike Roswag-Klinge, Matthias Rottmann, Amandus Samsøe Sattler
Verfahrensbetreuung
Büro für urbane Projekte, Leipzig
Büro für urbane Projekte, Leipzig
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