Neues aus Futaba
Ein Besuch in der Provinz Fukushima, dreizehn Jahre nach dem Tōhoku-Erdbeben.
Text: Stumberger, Rudolf, München
Neues aus Futaba
Ein Besuch in der Provinz Fukushima, dreizehn Jahre nach dem Tōhoku-Erdbeben.
Text: Stumberger, Rudolf, München
Vor dreizehn Jahren kam das Unglück über die Menschen an der Ostküste Nordjapans. Es ist der 11. März 2011, kurz vor 15 Uhr, als zuerst der Meeresgrund bebt, dann ein riesiger Tsunami folgt, der küstennahe Städte und Dörfer zerstört. Am folgenden Tag eskaliert die „Tōhoku-Katastrophe“: Im Atomkraftwerk Fukushima I kommt es zur Kernschmelze, der Reaktor explodiert und setzt radioaktive Strahlung frei, die vom Wind verteilt wird. Zehntausende Menschen müssen innerhalb kürzester Zeit ihre Wohnungen verlassen, die betroffenen Regionen werden evakuiert.
So erging es auch den Bewohnern der Kleinstadt Futaba, rund vier Kilometer nördlich des havarierten Atomkraftwerks gelegen. Viele Häuser waren vom Tsunami zerstört worden, doch bereits am Morgen des 12. März mussten auch die vom Wasser verschont gebliebenen Einwohner in aller Eile die notwendigsten Sachen packen und in Evakuierungsbusse steigen. Die meisten rechneten nicht damit, dass sie über ein Jahrzehnt lang ihre Häuser nicht wiedersehen würden. Die Stadt wurde – wie andere in einem 20-Kilometer-Umkreis von Fukushima I – aufgrund der hohen Strahlenbelastung zur verbotenen Zone erklärt, die man nicht betreten durfte. Betroffen waren etwa 800.000 Menschen.
Die Häuser verfielen, und Schlingpflanzen bemächtigten sich ihrer. Erst nachdem die Böden durch jahrelanges Abtragen der obersten Schicht dekontaminiert waren, konnten die ersten Bewohner zurückkehren. Die Rückkehr nach Futaba war im Sommer 2022 möglich.
Wer heute durch den Ort geht, der früher 7000 Einwohner zählte, sieht noch immer die verlassenen Häuser im Zustand von vor dreizehn Jahren. Der Zugang zur Bar „Rock River“ ist mit einer blauen Plastikplane geschlossen, daneben steht noch die Telefonnummer angeschlagen. Drinnen wirbt eine Reklame für Sake-Schnaps („3800 Yen“), und im Regal hinter dem Tresen stehen die verstaubten Flaschen in Reih und Glied, auf dem Tisch eine halbvolle Whisky-Flasche neben einer Thermoskanne. Manche Häuser der Nachbarschaft sind ebenso windschief geworden wie die Strommasten entlang der verlassenen Straße. Offenstehende Türen und Löcher in von Staub blinden Schaufenstern lassen Blicke auf die Habseligkeiten der ehemaligen Bewohner erhaschen: Verstaubte Fahrräder, Körbe mit Geschenkbändern, Koffer, Geschirr, Dosen. An einem Haus, dessen Dach mit einer blauen Plane gegen den Regen gesichert ist, hängt ein Schild mit der Aufschrift: „Betreten verboten.“
Das Stadtgebiet darf man inzwischen wieder betreten, die Geigerzähler schlagen keinen Alarm mehr. Wer allerdings die Straße nach Süden nimmt, gerät schnell wieder in eine verbotene Zone, dort sind die abzweigenden Straßen und Zufahrten zu den Häusern noch immer gesperrt, und das Messgerät fängt bedrohlich zu knarren an – so sehr ist in Futaba inzwischen wieder „alles in Ordnung“. Die Behörden versuchen, die ehemaligen Bewohner zur Rückkehr zu bewegen, freilich mit geringem Erfolg. Die Evakuierten haben sich inzwischen anderswo ein neues Leben aufgebaut. In Futaba sind einige der Häuser mit Graffitis versehen, sie zeigen Gesichter und sind betitelt mit „Together“ oder „Here we go!!!“. Sie sind im Rahmen der Initiative „Art District“ entstanden, die so die Verbundenheit mit dem Ort stärken will.
Neben dem Alten ist in Futaba aber auch Neues zu sehen: zeitgenössische Architektur. Sie steht für den Wiederaufbau der geschundenen Region. Zum einen wäre da der Neubau des Verwaltungsgebäudes nahe dem nun wiedereröffneten Bahnhof zu nennen. Zum anderen setzt das „große ostjapanische Erdbeben- und Nuklearkatastrophen-Museum“ auf Signifikanz. Das Gebäude wurde auf einer vom Tsunami verwüsteten Fläche erbaut und im September 2020 eröffnet. Mit einer langen, konkav geschwungenen Glasfront wendet sich der Bau dem Meer zu.
Die Tour durch das Museum beginnt in einem runden Saal, in dem als Prolog eine Mischung aus Video und Animation zur Katastrophe vom 11. März gezeigt wird. Entlang einer spiralförmig empor führenden Rampe werden die Besucher über den Ablauf der Katastrophe informieren. Wie am 12. März 2011, dem Tag nach dem Tsunami, um 5.44 Uhr die Evakuierung in einem Umkreis von zehn Kilometer um Fukushima I angeordnet wurde, um 7.45 Uhr auch in dem Drei-Kilometer-Radius um Fukushima II, das zweite Atomkraftwerk der Region, das aber schließlich ungefährlich blieb. Im Folgenden werden die Vorgänge in den Reaktorblöcken erklärt und Hintergründe zu den Evakuierungen gegeben, etwa, dass im Zuge der Sicherung des örtlichen Krankenhauses 40 Patienten starben. Ein Raum nennt sich „Die Stimmen von Fukushima“; hier erzählen die Bewohner und Bewohnerinnen in Tonaufzeichnungen vom Leben vor dem Tsunami. Die Ausstellung widmet sich auch den langfristigen Folgen der Nuklearkatastrophe. So wird das Modell einer Maschine gezeigt, die Reispackungen auf radioaktive Strahlung hin untersucht. Dokumentiert wird ebenso die gigantische Aktion, in der die kontaminierte Erde in der Region um das Atomkraftwerk abgetragen wurde. Seit März 2015 sind über 13 Millionen Kubikmeter dieser verseuchten Erde in ein Zwischenlager verbracht worden. Auch das Gelände, auf dem das Museum steht, sowie der Baugrund des benachbarten Business-Centers mit angeschlossenem Supermarkt wurden so gereinigt.
In der Gegend ist praktisch alles neu, von der Straße bis zu den Wellenbrechern an der Küste. Die japanische Regierung investiert viel Geld in die Region, um das Wirtschaftsleben wieder anzukurbeln. Zu den gesponsorten Projekten gehört auch das einige Kilometer vom Museum entfernte Roboter-Test-Feld. Auf dem Gelände kann der Einsatz von Robotern bei Katastrophen unter realen Bedingungen getestet werden. Weitere geförderte Projekte in der Präfektur Fukushima betreffen die Ansiedelung von medizintechnischer Industrie und Unternehmen der Luft- und Raumfahrt.
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