New York
Die Spitze des Eisbergs – Corona und die amerikanischen Institutionen
Text: Landes, Josepha, Berlin
New York
Die Spitze des Eisbergs – Corona und die amerikanischen Institutionen
Text: Landes, Josepha, Berlin
Ich habe in San Diego studiert, im demokratischen Kalifornien, wo die Leute am liebsten den ganzen Tag surfen. Nördlich der Stadt befindet sich einer der größten US-Marine-Stützpunkte, südlich das mexikanische Tijuana. Ich habe Freunde im amerikanischen Militär, und ich kenne Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus. Wenngleich der Brennpunkt der Corona-Situation auf der gegenüberliegenden Seite der Vereinigten Staaten in New York liegt – hier wie da wirken ähnliche, widersprüchliche Kräfte, die das Land zunehmend lähmen.
Ende März legte am Kai des Hudson River die USNS Comfort an, ein Lazarettschiff der US Navy mit 1000 Betten. Zuletzt war es nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York gewesen. In der Corona-Situation sollte es die überforderten Krankenhäuser der Stadt entlasten. Als das Schiff am 30. April wieder auslief, hatte die Besatzung 182 Patienten behandelt.
„Thank you for your service“ – kaum mehr als eine Floskel, stellen diese Worte Angehörige des US-Militärs bei jeder Gelegenheit in den Dienst ih-res Staats. Bürgerliche Devotheit schwappt darin mit, die mehr als dem Gegenüber der Körperschaft gilt, für die es einsteht. Die Floskel eilte dem Versagen der Vereinigten Staaten voraus, die Ausbreitung des Corona-Virus einzudämmen und es in seiner tödlichen Wirkung zu begrenzen, und sie ist bezeichnend. Denn sie salutiert der Ausübung einer Pflicht, die selbstredender Teil des Gemeinwesens ist – hier Arm der exekutiven Macht – , jedoch mitnichten jene Rolle auszufüllen vermag, die ihr die Anbiederung aufzwingt: die des übermenschlichen Retters. Sie bezieht sich auf den Mythos einer verkörperlichten Staatsidee und zermalmt die Menschen.
Das Militär bringt weder Freiheit, noch sichert es die Demokratie, erst recht nicht das Überleben einer Nation aus Einzelnen, als welche sich viele Amerikaner gern sehen. Das System der Checks-and-Balances wäre dafür in die Verantwortung zu ziehen, doch diese Erkenntnis lassen die permanenten Flügelkämpfe zwischen Republikanern und Demokraten verblassen. Die Nation krankt. Ihre Bürger kranken. Und zwar nicht erst an Covid-19.
„Thank you for your service“ gilt nun seit Monaten rund um den Globus Pflegekräften. Doch wie das umgarnte US-Militär können auch Ärztinnen und Pfleger gegen das Sterben nur ihr Bestes tun. Wie sich so mancher Militär im steten Salutieren seiner Position verkannt sah, birgt die jetzige Situation die Gefahr, zu Ungunsten des medizinischen Fachpersonals und aller Amerikaner, ja aller Menschen, verunklart zu werden, indem man die, die ihren Dienst tun – und dabei überfordert werden –, zu Helden erklärt. Dieses Vorgehen verschleiert Zuständigkeiten.
Das Gesundheitswesen der USA ist hervorragend, ihr Gesundheitssystem jedoch ein Desaster. Die Obama-Regierung hatte 2010 Schritte unternommen, die Ungleichheit zur gesundheitlichen Versorgung im „Land of the Free“, wo nur die privilegierteren Bürger eine Krankenversicherung besaßen, wenigstens abzumildern. Eines von Donald Trumps erbitterten Zielen ist es seit seinem Amtsantritt 2017, dieses Paket der „Obama Care“ (Affordable Care Act, kurz A.C.A.) zu beseitigen. Derzeit läuft das dritte Verfahren zu dessen Rechtmäßigkeit vor dem Supreme Court: Als Zankapfel hält das sogenannte „Individual Mandate“ her – eine Strafzahlung, die Bürgern noch bis 2018 auferlegt wurde, wenn sie versicherungspflichtig waren, aber – Kraft ihrer Freiheitsrechte – auf den Abschluss einer Krankenversicherung verzichteten. 2017 hatte der (zu dem Zeitpunkt mehrheitlich republikanisch besetzte) Kongress beschlossen, diese Strafzahlung auf nationaler Ebene zu nullen. Ein Beschluss der, so entschied daraufhin ein Richter des District Court in Texas, zur Verfassungswidrigkeit des A.C.A. führe. Das zuständige Berufungsgericht in New Orleans pflichtete dem bei. Die Entscheidung in Washington wird allerdings erst im Frühjahr 2021 erwartet, nach den Präsidentschaftswahlen im November. Bis dahin bleibt das Gesetz in seiner momentanen Form in Kraft.
Die Freiheit, unfrei zu sein
Die Declaration of Independence ist die Krux dieser Nation, vor 244 Jahren verfasst, nehmen viele US-Bürger das Gründungspapier so wörtlich wie die Bibel: Sie ist Freiheitsversprechen und Geisel in Einem. Und selbst demokratische Regelwerke versprechen stets Profite für jene, die ohnehin am längeren Hebel sitzen, vorgeblich im Dienst der Freiheit. So gehen etwa bei „Obama Care“ die Versicherungsanstalten keineswegs leer aus. Die amerikanische, freie Gesellschaft ist ein Knecht ihrer selbst, eine Klassengesellschaft ohne Vorgänger. Corona macht die Spaltung zwischen Arm und Reich, Land und Stadt, den Ethnien, Nationalitäten und Bildungsschichten noch deutlicher als sie im Wahlsieg des Unternehmers Trump bereits zutage getreten war.
Wer sind die Menschen, die unter diesen Voraussetzungen das größte Risiko haben, an Krankheiten wie Covid-19 zu sterben? Solange die Rede ist von New York als Hochburg der Pandemie, scheint Covid-19 einer Blase der Wohlstandsgesellschaft den Dolch zwischen die Rippen zu rammen. 334.640 der 1.324.488 bis zum 11. Mai landesweit bestätigten Infektionen fanden sich im Staat New York; 26.923 von 79.756 Toten – weit über ein Drittel. Warum diese Eskalation im Big Apple und Umland? Wurde die Enge der Stadt, die Nähe, in der die Menschen dort fast europäisch leben, zu ihrem Verhängnis? Zum Vergleich Texas, tiefste Südstaaten: Downtown-Houston verhält sich hinsichtlich des Gedränges auf den Bürgersteigen zu New York City in etwa wie die Erde zum Mars – die Vermutung, es könne dort Leben geben, stützt sich eher auf Indizien als Beweise. Dieser Bundesstaat mit rund 28,3 Millionen Einwohnern, circa 10 Millionen mehr als New York, verzeichnete zum selben Zeitpunkt nur knapp 38.869 Infizierte und 1088 Tote. Auch der Blick nach Kalifornien – in den hiesigen Städten hat man ebenfalls eher Platz auf dem Gehsteig – regt zum Nachdenken an: Auf 39,5 Millionen Einwohner kamen Anfang Mai wenig mehr als 66.680 Infizierte und 2745 Tote.
Ein proaktives Manifest für Manhattan
Der bloße Zahlenvergleich hinkt selbstverständlich, denn New York wurde, neben dem Fakt seiner extrem hohen Einwohnerdichte, in der Corona-Situation zweifelsohne einmal mehr seiner Funktion als Hotspot der Globalisierung gerecht. Die Stadt sollte schon von den Attentätern des 11. September zur Achillesferse des westlich vernetzten Lebensstils gemacht werden. Aus ähnlichen Gründen bot sie sich nun auch der biologischen Bedrohung als Einfallstor an. Sie wurde zur Petrischale des Virus, weil sie allerlei Menschen in engen Austausch setzt. Anders als 2001 steht sie jedoch, mitsamt diesen ihr inhärenten Beziehungsgeflechten, nicht mehr für die amerikanische Idealstadt, sondern ist zu einem Extrem im polarisierten Polit-Spiel geworden. In Trumps Rhetorik erfüllt sie die Funktion der Stadt gegenüber dem Land. Dabei offenbart ein Blick auf die Corona-Statistiken, wie sehr sie doch als Querschnitt durch die amerikanische Gesellschaft taugt: Weitaus die meisten an Covid-19 verstorbenen Patien-ten sind hier, wie im Rest der Staaten, schwarz. Demgegenüber die wenigsten weiß. Auffällig darüber hinaus allerdings ist ein ungewöhnlich ho-her Anteil an verstorbenen Latinos in dem Bundesstaat. Ein Blick auf die Ethnien ist in den USA in fast jeder Hinsicht ein unmissverständlicher Schlüssel zur Antwort auf soziale Fragen: New York ist ein reicher Staat, gekrönt mit einer der reichsten und teuersten Städte der Welt. Und rei-che Amerikaner beschäftigen arme, nicht immer eingebürgerte, nicht immer legale, nicht immer krankenversicherte oder englisch sprechende Menschen. Corona trifft die amerikanische Gesellschaft nicht nur aus Gründen der räumlichen Enge in New York besonders hart. Corona trifft hier das Symbol einer gespaltenen Welt.
Deshalb ist es umso wichtiger, New York nicht nur als das internationale Zentrum des Finanzkapitalismus zu betrachten. Die Idee der amerikanischen Hochhaus-Stadt, die etwa Rem Koolhaas so eindringlich in Delirious New York formuliert hat, ist eine Errungenschaft New Yorks. NYC ist die Moderne und die Internationale, ist sicherer Hafen, Stadt der Möglichkeiten und alles Unverhofften, Inspirationsquelle und Lebensraum zahlloser Künstler, Autoren und Idole. Und New York City ist eigentlich auch medizinisch gut aufgestellt: Mit allein elf Akutkrankenhäusern ist sie eine der am besten mit Gesundheitseinrichtungen versorgten Regionen der Vereinigten Staaten. Wenn die auch dieser Tage und Wochen aufgestockt werden mussten – Bereits geschlossene Spitäler wurden reaktiviert; Im Central Park eröffnete ein von christlichen Fundamentalisten betriebenes Feld-Krankenhaus; Im Hudson River ankerte das eingangs erwähnte Lazarettschiff, in dem „regulär Kranke“ behandelt werden sollten.
Das Militär und der liebe Gott treten in diesem Corona-Act, wie im amerikanischen Rezitativ so oft wiederholt, an die Stelle des Retters der Nation. Weniger als auf die heroische Einfahrt des Krankenhaus-Schiffes fokussiert die Regierung auf die Nebenschauplätze und deren Brisanz – nicht nur unter Corona-Bedingungen: Familien, die in Autos leben. Putzkolonnen, die kaum schlafen. Evangelikale Prediger, die ihre Gemeinden in (Ansteckungs-)Trance beten, oder auf die Gefechte, die das Militär intern, in diesem Fall mit dem Virus, austrägt. Zu demoralisierend würde die Einsicht wirken, dass weder Talar noch Uniform als Schutzbekleidung taugen. New Yorks Gouverneur, Andrew Cuomo, ist darüber schon im April der Kragen geplatzt, und er forderte einen tatsächlich Zuständigen auf, seine Pflicht zu tun: den 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten.
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