Österreichs sozialdemokratischer Inselbetrieb
Das Wien Museum stellt „Das rote Wien“ aus – welches letztlich selbst die Ausstellung ist
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
Österreichs sozialdemokratischer Inselbetrieb
Das Wien Museum stellt „Das rote Wien“ aus – welches letztlich selbst die Ausstellung ist
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
Vor 100 Jahren wurde der erste der berühmten „Höfe“ Wiens eingeweiht, jener Großwohnanlagen, die die Gemeinde Wien in der Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Sieg des Austrofaschismus 1933/34 für einkommensschwache Mieter errichtete. Nun war der Bau des Metzleinstaler Hofes zwar schon während des Krieges begonnen worden, aber als Signal und Symbol taugte er dank der Umwandlung in einen gemeindlichen Wohnblock sehr gut. Zunächst wurde die 1917 eingeführte Mietbegrenzung auf die sogenannte „Friedensmiete“ unbefristet verlängert, was den privaten Wohnungsbau zum Erliegen brachte. Erst mit den Mitteln der Wohnbausteuer – auch Hauszinssteuer genannt –, die auf Vorschlag des sozialdemokratischen Finanzstadtrats Hugo Breitner Anfang 1923 eingeführt und durch einen ganzen Kranz von Luxussteuern ergänzt wurde, konnte Wien in großem Maßstab Grundstücke erwerben und selbst bebauen. So entstanden bis zur Weltwirtschaftskrise, die der kommunalen Bautätigkeit ein Ende machte, 382 Wohnanlagen mit rund 65.000 Wohnungen, in die 220.000 Menschen einziehen konnten.
„Das rote Wien“ wurde die Hauptstadt des nach dem Krieg auf die Größe der „Alpenrepublik“ geschrumpften Österreich genannt. Regelmäßig erzielte die Sozialdemokratie bei den Gemeindewahlen Stimmenanteile weit jenseits der 50-Prozent-Marke. Die Kommunisten kamen dabei über den Rang einer Splitterpartei nie hinaus. Die Sozialdemokraten wurden zu einer Art Lebensvorsorge: Sie ließen Wohnungen bauen und verteilten sie, sie schufen Sozialeinrichtungen und Schulen, sie kümmerten sich um alle Nöte des Alltags. In den größeren Höfen gab es Volksbibliotheken und nebenan das Parteibüro. Ihr Organisationsgrad war phänomenal.
Dem „roten Wien“ widmet das Wien Museum jetzt eine Ausstellung, die wegen der Sanierung und Erweiterung des angestammten Hauses am Karlsplatz im Ausweichquartier gegenüber dem Rathaus stattfindet und wohl auch aus diesem Grund auf ein Dreivierteljahr Laufzeit ausgedehnt wird. Zugleich finden an den Wochenenden Veranstaltungen in jeweils einem der größeren Höfe statt, die mit der ursprünglichen Ausstattung der Wohnanlagen beispielsweise mit Waschküchen oder Veranstaltungssälen bekannt machen, die heutzutage nicht mehr benötigt und genutzt werden. Im Karl-Marx-Hof, dem bei weitestem bekannten und wegen der Ereignisse beim sogenannten Februaraufstand 1934 symbolträchtigsten aller Höfe, wurde im Sommer 100 Jahre „rotes Wien“ gefeiert.
Nun ist das „rote Wien“, vor allem die Wohnbauten der Gemeinde, keine terra incognita mehr. Im Gegenteil: Seit Jahrzehnten gibt es eine immer noch wachsende Literatur zum Thema. Das Wien Museum hat selbst viel zur Kenntnis der republikanischen Zeit Wiens beigetragen, so mit der breit angelegten Ausstellung „Kampf um die Stadt“ im Winter 2009. Die damalige Fülle von originalen Objekten kann die gegenwärtige Ausstellung nicht zuletzt wegen ihren langen Dauer nicht aufweisen. Dennoch wird in rund einem Dutzend Kapiteln die Breite der sozialdemokratischen Politik und Vorsorge aufgefächert. In dem einen, groß dimensionierten Raum, der im Ausweichquartier zur Verfügung steht, ist dazu ein durchgängiger, umlaufender Wandaufbau eingesetzt, der im unteren Teil Vitrinen zumeist mit Schriftdokumenten wie zeitgenössischen Büchern und Broschüren zeigt und in der Höhe eine Art Fries aus entstehungszeitlichen Fotografien der bekanntesten Wohnanlagen und ihrer architektonischen Besonderheiten.
Mit dem besonderen „Stil“ der Wiener Höfe – wenn man davon sprechen will – hat sich die architekturtheoretische Rezeption immer schwer getan. Sie sind so gar nicht nach den Kriterien von Bauhaus oder International Style errichtet, kein Gropius, kein Mies und schon gar kein Le Corbusier hätte jemals so gebaut. Vielfach waren es Schüler des 1918 verstorbenen Otto Wagner, die im Wohnbau tätig waren. Weder bauten sie außerhalb von Wien, noch kamen umgekehrt auswärtige Architekten zum Zuge. Wien, aufgrund seiner Bevölkerungsstruktur und seiner politischen Färbung eine regelrechte Insel im konservativen Österreich, blieb auch in architektonischer Hinsicht ein Inselbetrieb.
Manfredo Tafuri, der mit seinem 1980 erschienenen Buch „Vienna Rossa“ internationale Aufmerksamkeit auf die Wiener Architektur lenkte, hat sie von einer politisch linken Warte aus als „idealistisch“ kritisiert und spricht von „Traumschloss“ oder „semantischer Utopie“. Die Fotografien der Ausstellung, die die Höfe in dichter Reihung vorstellen, während sie sich in der Realität zumeist vereinzelt, als Inseln inmitten gewöhnlicher Mietshausbebauung zeigen, sprechen für eine solche Einschätzung. Aber nur deshalb, weil die Fotos die soziale Realität aussparen, die mit den Bauten verbunden war und von ihnen bewirkt werden sollte.
Im ganz ausgezeichneten, an Materialfülle weit über die eigentliche Ausstellung hinausgehenden Katalog ist von den drei Konzepten der „Pädagogisierung, Hygienisierung und Demokratisierung“ die Rede. Die Wohnhöfe – zumindest die größeren unter ihnen, deren allergrößte über 1000 Wohneinheiten umfassten – waren zugleich Volksbildungsanstalten, sie sollten ihren Bewohnern ein hygienisches Leben ermöglichen, und sie waren Keimzellen einer nicht nur auf gleichem Wahlrecht, sondern auf ökonomischer Gleichheit fußenden Demokratie. Von all dem sind heute nur mehr Spuren zu finden. Die politische Sprengkraft von Leihbüchereien, Volksküchen, Waschhäusern, Brausebädern und nicht zuletzt dem Parteibüro um die Ecke hat sich im Zuge der Wohlstandsdemokratie der zweiten Nachkriegszeit verflüchtigt.
Umso wichtiger ist der Ansatz der Ausstellung, eben nicht nur Ausstellung zu sein, sondern den Besucher aufzufordern, an die authentischen Orte selbst zu gehen und im Rahmen der Wochenendveranstaltungen die Besonderheiten einzelner Anlagen, so noch vorhanden, zu erkunden. Die Ausstellung „Das rote Wien“ stellt die Stadt aus, aber letztlich ist die Stadt selbst die Ausstellung – so man sie zu entdecken und zu verstehen lernt.
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