Post-Shopping-City-Innenstadt
Offenbach am Main hat ein „Zukunftskonzept Innenstadt“ beschlossen. Mit reichlich Lust am Experiment werfen die verantwortlichen Planer, das Büro urbanista aus Hamburg, die jahrzehntelang gültige Vorstellung von einem Stadtzentrum als Ort vor allem zum Einkaufen über Bord. Gelingt der Stadt die Umsetzung des ambitionierten Vorhabens – es wäre ein Befreiungsschlag mit Vorbildwirkung.
Text: Friedrich, Jan, Berlin
Post-Shopping-City-Innenstadt
Offenbach am Main hat ein „Zukunftskonzept Innenstadt“ beschlossen. Mit reichlich Lust am Experiment werfen die verantwortlichen Planer, das Büro urbanista aus Hamburg, die jahrzehntelang gültige Vorstellung von einem Stadtzentrum als Ort vor allem zum Einkaufen über Bord. Gelingt der Stadt die Umsetzung des ambitionierten Vorhabens – es wäre ein Befreiungsschlag mit Vorbildwirkung.
Text: Friedrich, Jan, Berlin
Das Verhältnis von Innenstadt und Handel erinnert mitunter an eine Beziehung zwischen zwei Menschen, die schon lange nicht mehr funktioniert. Eigentlich sind sich alle darüber bewusst, dass kaum noch etwas zu kitten ist – die beiden selbst wissen es, ebenso ihre Freunde, die Familien. Trotzdem versucht man irgendwie, wie gewohnt weiterzumachen. Warum eigentlich? Neben finanziellen Aspekten, die nicht selten ein Grund dafür sind – man hat sich für das viel zu teure Eigenheim gemeinsam hoch verschuldet –, fehlt meist auch schlicht die Vorstellung davon, wie das Leben außerhalb dieser engen Verbindung denn aussehen könnte.
Unsere Innenstädte ohne Einzelhandel oder, wenn auch wohl nicht ganz ohne, dann doch mit viel weniger, als wir es jahrzehntelang gewohnt waren – was bliebe da noch von einer Innenstadt? In den vergangenen Jahren, als sich der Niedergang des stationären Handels kontinuierlich beschleunigte, haben wir diesen stets gleichgesetzt mit einem mancherorts drohenden, mancherorts längst vollzogenen Niedergang der Innenstädte. Aber muss das zwangsläufig so sein? Was, wenn man die im Grunde völlig verengte Vorstellung von der Innenstadt als Shopping-City weitete – und sie als einen Ort begriffe, an dem (wieder) viel mehr und ganz anderes stattfinden kann als lediglich Kaufen und Verkaufen?
Eine neue Erzählung
„Eine neue Erzählung von der Innenstadt“ nennt das Hamburger Stadtplanungsbüro urbanista diesen Versuch der Horizonterweiterung im Vorwort des „Zukunftskonzepts Innenstadt“ für Offenbach am Main. Aufbauend auf der These, so heißt es dort, „dass eine Innenstadt nicht mehr vorrangig durch den Handel funktioniert und geprägt ist“, widmet sich das 146 Seiten dicke Papier „der zentralen Frage, warum die Menschen auch in Zukunft noch die Innenstädte besuchen“. Im Sommer 2018 war urbanista gemeinsam von der Stadt Offenbach und dem IHK-nahen Verein „Offenbach Offensiv“ mit der Entwicklung eines solchen Konzepts beauftragt worden. Gut zwei Jahre später, im vergangenen Juni, hat der Magistrat der 130.000-Einwohner-Stadt dessen Umsetzung beschlossen.
Offenbach am Main hält damit bereits in Händen, was viele andere Kommunen erst noch für sich erarbeiten müssen – spätestens dann, wenn das ganze Ausmaß der von den Anti-Pandemie-Maßnahmen rasant beschleunigten Verwerfungen im Einzelhandel sichtbar geworden sein wird. Dass Offenbach einen Schritt weiter ist, liegt daran, dass die monogame Beziehung zwischen Handel und Innenstadt – um noch einmal das Bild vom Anfang zu bemühen – dort schon seit langem in einer Weise beschädigt war, die es niemandem mehr erlaubte zu übersehen: Mit Reparaturarbeiten am überkommenen Innenstadt-Programm wird nichts mehr zu gewinnen sein. Ein konzeptioneller Befreiungsschlag war gefragt – und eine Idee von den Werkzeugen, mit denen dieser Befreiungsschlag ausführbar wäre.
Ausgangspunkt dafür ist die Beobachtung, dass das Offenbacher Zentrum die Qualitäten, die es in den Stadtteilen und Quartieren gibt, in keiner Weise abbildet. Der Aufschwung im Rhein-Main-Gebiet hat auch die finanziell eher schlecht aufgestellte Stadt erreicht; ihre Einwohnerzahl wächst stärker als die anderer hessischer Städte. Auch ihr zweifelhafter Ruf hat sich gebessert: Selbst Frankfurter fliehen heute vor den horrenden Mieten in der Bankenmetropole über die Stadtgrenze zu ihrem zwar auch nichtmehr billigen, aber noch wesentlich günstigeren Nachbarn (vor wenigen Jahren noch wäre ein Frankfurter vermutlich lieber obdachlos geworden, als Wohnung in Offenbach zu nehmen). Allein, die Innenstadt kann nicht von diesem Ansehensgewinn der Stadt profitieren. Sie erzählt weiterhin die traurige Geschichte von der niedergehenden Shopping-City, in der sich, von Ausnahmen abgesehen, Billig-Angebot an Billig-Angebot reiht.
Innenstadtversprechen
„So wie eine Stadt im Ganzen ein ‚Stadtversprechen‘ in sich trägt – zum Beispiel auf Entfaltungsmöglichkeiten, Teilhabe oder urbane ‚Erlebnisvielfalt‘ – so trägt auch eine Innenstadt ein ‚Innenstadtversprechen‘ in sich: das Versprechen auf die Realisierung spezifischer Bedürfnisse an eben diesem Ort“, formulieren die Planer von urbanista den roten Faden des Zukunftskonzepts. Das „Innenstadtversprechen“ fächere sich in fünf Ebenen auf – Handel und Versorgung, Arbeit, Teilhabe und Repräsentation, Kultur und Gemeinschaftlichkeit, Wohnen –, die im Idealfall in etwa gleichem Umfang das Programm einer Innenstadt prägen. Vielerorts, und in Offenbach im Besonderen, habe sich im Laufe des vergangenen Jahrhunderts dieses Gleichgewicht völlig verschoben: zugunsten einer längst nicht mehr tragfähigen Monokultur von Handel und Dienstleistung.
Folgerichtig schlägt das „Zukunftskonzept Innenstadt“ eine ganze Reihe von Maßnahmen vor, die zum Teil zwar auch Experimente mit alternativen Handelskonzepten anregen, vor allem aber ganz andere Nutzungen stärken sollen. Entwickelt hat urbanista die Projekte in mehreren Workshops gemeinsam mit Vertretern der beiden Auftraggeber, der Stadt und des Vereins Offenbach Offensiv, sowie anderen Akteuren der Innenstadt, Hauseigentümern, Händlern, Kulturschaffenden etc. Bei allen Vorhaben wurde darauf geachtet, dass sie jeweils mehrere Ebenen des Innenstadtversprechens abbilden, also auf hybriden Programmen aufbauen. Das soll nicht nur zu einer dichteren städtischen Mischung führen, sondern auch gewährleisten, dass sie sich hybrid, von mehreren Schultern getragen, finanzieren lassen – in einer Stadt mit chronisch knappen Finanzen ist das unabdingbar, wenn all diese Ideen nicht Ideen bleiben sollen.
Die im Konzept skizzierten Projekte reichen von Sofortmaßnahmen wie einem neuen Feste-Programm für die Innenstadt, dessen ursprünglich bereits für dieses Jahr geplanter Start Pandemie-bedingt verschoben werden musste, über die sukzessive Schaffung eines „Grünen Bandes“ quer durch die City, ein „Dachsteiger“ genanntes Förderprogramm zur Aktivierung öffentlicher Dachnutzungen, die „Testraum-Allee“, ein Stipendium für Jungunternehmer, die ihre Geschäftsideen in einem Ladenlokal in bester Lage sowohl stationär als auch digital testen können und ihre Erfahrungen in Seminaren mit anderen Händlern teilen sollen, bis hin zu langfristigeren Vorhaben wie dem „Kaufhaus Kosmopolis“, einer Mischung aus Kaufhaus für regionale Produkte, Streetfoodmarkt und Kulturtreffpunkt, oder der „Station Mitte“, einer Neuausrichtung der Stadtbibliothek als Wissenshaus und Kulturzentrum nach dem Vorbild aktueller skandinavischer Bibliotheken. Zur Station Mitte wird die Stadt eine Machbarkeitsstudie durchführen, die Offenbach Offensiv finanziell unterstützt.
Aufbruchstimmung?
Wenn man sich heute, ein halbes Jahr nach Verabschiedung des Zukunftskonzepts durch den Offenbacher Magistrat, bei den Beteiligten umhört, wie es seither weitergegangen ist, festigt sich der Eindruck, dass Offenbach es ernst meint damit, die neue Erzählung von seiner Innenstadt Wirklichkeit werden zu lassen. Anfang Dezember gab es ein Arbeitstreffen der Beteiligten am Station-Mitte-Projekt; gleich im neuen Jahr wird die „Agentur Mitte“ gegründet, die, angesiedelt bei der Wirtschaftsförderung, die Umsetzung der Projekte steuern und weitere private Akteure für ein Engagement in der Innenstadt im Sinne des Zukunftskonzepts gewinnen soll. Für eine tatsächlich schlagkräftige Aufstellung der Agentur Mitte möchte man allerdings hoffen, dass baldmöglichst die Finanzierung für die mindestens drei dafür vorgesehenen Vollzeitstellen gesichert ist; fürs erste erlaubt der städtische Haushalt nur die Besetzung einer Stelle.
Vielleicht naht in dieser Frage aber schnelle Hilfe vom Land Hessen: Wenn der neuerliche Lockdown nicht zu einer Verschiebung der Sache geführt hat, wird sich am 15. Dezember, einen Tag nach Redaktionsschluss dieses Textes, ein „Bündnis für die Innenstadt“ gegründet haben, dem u.a. der Hessische Industrie- und Handelskammertag, der Handelsverband Hessen, der Hessische Städtetag, der Hessische Städte- und Gemeindebund sowie die Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen angehören werden. Das Wirtschaftsministerium in Wiesbaden hat für die Umsetzung eines „Zukunftsplans für Hessens Innenstädte“ im Rahmen dieses Bündnisses Fördermittel von 40 Millionen Euro angekündigt.
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