Bauwelt

Sieges- oder Besatzungsdenkmal?

Diesen Sommer wurde in Riga ein sowjetisches Kriegsdenkmal abgerissen, weitere sollen folgen. Die Geschichte des Ortes ist ein Paradebeispiel dafür, wie mächtig Geschichtspolitik sein kann.

Text: Wieschollek, Jonas, Riga

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    Vergangenheit? Das sowjetische Kriegsdenkmal in Riga vor dem Abriss.
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    Erinnerungskultur ist ein Konstrukt, das auch zum Einsturz gebracht werden kann: Der fallende Obelisk am
    25. August.
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    In Lettland geht die sowjetische Erinnerungskultur zur Neige: "Mutter Heimat" wird abtransportiert.
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    Im Moment ist das Areal weiträumig abgesperrt, ...
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    ... fotografische Dokumentation ist nicht erwünscht - eine hochpolitische Baustelle.
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    ... fotografische Dokumentation ist nicht erwünscht - eine hochpolitische Baustelle.

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Sieges- oder Besatzungsdenkmal?

Diesen Sommer wurde in Riga ein sowjetisches Kriegsdenkmal abgerissen, weitere sollen folgen. Die Geschichte des Ortes ist ein Paradebeispiel dafür, wie mächtig Geschichtspolitik sein kann.

Text: Wieschollek, Jonas, Riga

Was ist die Einweihung eines Denkmals gegen dessen Abriss? Eine Einweihung ist in hohem Maße inszenierungsbedürftig. Was dem Ereignis an unmittelbarer Wirkmacht abgeht, muss symbolisch kompensiert werden, bestenfalls durch Blaskapelle, Parademarsch und prominente Gäste, die dem Festakt etwas von ihrer Prominenz verleihen. Anders der Abbruch eines Denkmals. Die Explosionen, die zusammenstürzenden Gesteinsmassen und der Anblick der Trümmerhaufen machen ihn zu einem effektvollen Schauspiel, das die Inszenierungsstrategien einer Denkmaleröffnung der Lächerlichkeit preisgibt. Kein Wunder also, dass die Bilder des Abbruchs eines sowjetischen Kriegerdenkmals in der lettischen Hauptstadt Riga in diesem Sommer um die Welt gingen und zum Kristallisationspunkt einer ganzen Reihe von Konfliktlinien wurden: konservierender Denkmalschutz oder proaktive Geschichtspolitik? Sowjetischer Antifaschismus oder russischer Neoimperialismus? Lettischer Alleingang oder postsowjetische Verpflichtungen?

Ein Denkmal, viele Perspektiven

Die eindrucksvollen Bilder vom 25. August zeigen den Fall einer 79 Meter hohen Stele, die Teil eines Denkmalensembles für die Befreier Sowjet-Lettlands und Rigas von den deutsch-faschistischen Besatzern ist. Soweit die offizielle Bezeichnung, der im Alltag jedoch schon lange der Rang abgelaufen wurde von zwei konkurrierenden Bezeichnungen: Für die einen war es schlicht das „Siegesdenkmal“, für die anderen ein „Besatzungsdenkmal“, das die bis 1991 andauernde sowjetische Okkupation Lettlands symbolisierte. Die mit einem Sowjetstern gekrönte Stele wurde flankiert von vier Skulpturen, die dem etablierten Kanon sowjetischer Kriegsdenkmäler entsprachen: Drei marschierende sowjetische Soldaten folgen dem Ruf der allegorischen „Mutter Heimat“ zur Abwehr der faschistischen Invasion. Das Gelände wurde für den Abriss weiträumig gesperrt, womit die polarisierende Wirkung des Spektakels jedoch keinesfalls gebannt war: Von den einen frohlockend mit Champagner im Livestream verfolgt, trieb die Aktion eine kleine Minderheit trotz Versammlungsverbots zu Protesten auf die Straße.

Euer Sieg ist unsere Okkupation – Widerstreitende Geschichtsbilder

Sieg und Okkupation sind Begriffe, die sich nicht ohne weiteres von der jeweiligen Sprecherperspektive lösen lassen. Wessen Sieg und wessen Okkupation gedenkt das Ensemble also? Das Denkmal befindet sich in dem „Park des Sieges“, der in den dreißiger Jahren angelegt wurde und mit dem das unabhängige Lettland der Zwischenkriegszeit den erfolgreichen Unabhängigkeitskampf gegen Sowjetrussland zu Beginn der zwanziger Jahre feiern wollte. Zu der Errichtung eines Denkmals kam es nicht mehr. Stattdessen wurde die Brache im Sowjetlettland der achtziger Jahre von einem gegenläufigen Geschichtsnarrativ ausgefüllt: der des Sieges der Roten Armee über den Nationalsozialismus und der Befreiung der besetzten Gebiete. So unbestritten verdienstvoll und erinnerungswürdig der Sieg über Nazi-Deutschland, so problematisch ist der Begriff der Befreiung in diesem Zusammenhang für Lettland. Die „Befreiung“ durch die Sowjetunion war für die baltischen Staaten gleichbedeutend mit einer erneuten Okkupation, die bis zur Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 andauern sollte – Besatzungswechsel statt Befreiung also.
Es knirschte also schon lange in der Geschichtskonzeption des Rigaer „Siegesdenkmals“. Als städtebaulicher Ausdruck dieser Gemengelage lässt sich das 1935 erbaute und auf der anderen Seite des Flusses Daugava befindliche „Freiheitsdenkmal“ betrachten, das den im lettischen Un­abhängigkeitskampf gegen Russland gefallenen Opfern gewidmet ist. Das jüngere sowjetische Denkmalensemble zitierte und übertrumpfte die Bildsprache des älteren Denkmals der lettischen Unabhängigkeit in einer machtvollen Geste: Den drei Sternen des lettischen Denkmals, die für die drei historischen Regionen Lettlands stehen, trat der einzige Stern des Kommunismus gegenüber, das Relief der lettischen Freiheitskämpfer wurde mit den Bronzeskulpturen der sowjetischen Rotarmisten gekontert, die Milda-Figur aus der lettischen Folklore und Mythologie wurde durch die sowjetische Metapher der „Mutter Heimat“ ersetzt und – für die zu Megalomanie neigende sowjetische Architektur nicht unbedeutend – die 42 Meter hohe Stele des lettischen Freiheitsdenkmals wurde von den 79 Metern des Sowjetdenkmals deklassiert.
Diese Dissonanz in Rigas Erinnerungslandschaft wurde seit der wiedergewonnenen Unabhängigkeit des Landes kontrovers und entlang komple­-xer sprachlicher, politischer und generationeller Linien diskutiert. Der Respekt für die Opfer in den Reihen der Roten Armee sowie Lettlands völkerrechtliche Verpflichtung zum Schutz derartiger Denkmäler gegenüber Russland hatte bislang stets den Ausschlag für die Bewahrung der Anlage ge­geben. Infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine im Februar 2022 wurde die Debatte mit erhöhter Anspannung neu aufgerollt.

Ein Denkmal für den „russischen“ Sieg im Herzen Lettlands?

Über viele Jahre war das sowjetische Denkmal ein beliebter Versammlungsort vor allem der russischsprachigen Bevölkerung Lettlands. Jedes Jahr am 9. Mai wurde dort feierlich der „Tag des Sieges“ begangen. Nach dem 24. Februar 2022 wurde die Anlage jedoch vermehrt zum Schauplatz pro-russischer Demonstrationen einer kleinen Minderheit, bei denen der Angriffskrieg gegen die Ukraine gerechtfertigt wurde. Die gesellschaftliche Anspannung erreichte einen Höhepunkt, als am diesjährigen „Tag des Sieges“ – trotz eines Veranstaltungsverbots – Blumenkränze am sowjetischen Siegesdenkmal ablegt wurden, die tags drauf wieder entfernt wurden. Unter dem Eindruck der Bilder von zerstörten Städten und Dörfern aus der Ukraine ging dann alles ganz schnell: Zunächst kündigte Lettland den entsprechenden Passus des völkerrechtlichen Vertrags mit Russland, dann verabschiedete das Parlament ein Gesetz zur Entfernung aller Totalitarismus verherrlichenden Denkmäler, und vom 23. bis 25. August wurde das Rigaer Denkmal abgetragen.
Wieso haben die Ereignisse in der Ukraine die erinnerungspolitische Debatte in Lettland derartig elektrifiziert? Es griffe zu kurz, die lettische Entscheidung wegen einer unzulässigen Vermengung eines vergangenen und eines gegenwärtigen Konflikts zu kritisieren. Nach der Auflösung der Sow­jetunion wurde das Denkmal zuweilen ohnehin schon als „russisches“ Siegesdenkmal wahrgenommen, zumal Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion fungiert und aktiv für den Schutz sowjetischer Denkmäler in ganz Europa eintritt. Gewichtiger ist jedoch die Geschichtsmanipulation, die Russland zur Rechtfertigung des Kriegs gegen die Ukraine in Stellung bringt: Die Kiewer Regierung wird als faschistisches Regime denunziert, das es – ganz im ideologischen Fahrwasser der Sowjetunion – in einem erneuten „gerechten Krieg“ zu vernichten gelte.
Dieses verzerrte Geschichtsbild für einen Augenblick zugrunde gelegt, verwandelt sich das „antifaschistische“ Denkmal in Riga zu einem unheilvollen Omen für einen Sieg Russlands im jetzigen Konflikt: Es ehrt schließlich die „Befreiung“ von einem „Faschismus“, wie sie Russland mit einem militärischen Sieg in der Ukraine anzustreben vorgibt. Die lettische Perspektive auf den Konflikt ähnelt indes derjenigen der Ukraine, die Russlands „Befreiungsversuch“ als gewaltsame Okkupation ihres Territoriums erlebt. So wurde aus dem ohnehin schon komplizierten Rigaer Denkmal ein makabres Symbol des russischen Neoimperialismus, für das im Geschichtsbild des unabhängigen Lettlands kein Platz ist.

Das untote Denkmal

So weit, so nachvollziehbar erscheint der Abbruch des Denkmals aus lettischer Perspektive. Damit ist die symbolische Dimension dieses Vorgangs indes noch nicht erschöpft. Die Freude, ein Symbol des russischen Imperialismus fallen zu sehen, dürfte eine ganz erhebliche Rolle dabei gespielt haben, warum die Bilder der einstürzenden Stele in vielen Ländern viral gegangen sind. Vor dem Hintergrund eines Krieges, der wie kein bisheriger Konflikt von Bilderfluten in den sozialen Medien begleitet wird, fungierte der Abriss als eine Art architektonischer Blitzableiter, mit dem Russland ein zumindest geschichtspolitischer Stich zugefügt werden konnte.
Für den Umgang mit sowjetischen Kriegerdenkmälern in Europa lassen sich keinerlei pauschale Lösungen finden. Das gebotene Gedenken an die Gefallenen der Roten Armee darf jedoch nicht auf das gegenwärtige Russland verengt werden – schließlich kämpften die unterschiedlichs­-ten Sowjetnationalitäten in ihren Reihen, und die osteuropäischen Staaten zwischen Deutschland und Russland haben in besonderem Maße unter den totalitären Regimen ihrer Nachbarstaaten gelitten. Die geschichtspolitische Debatte in Lettland dürfte derweil anhalten, da bis zum Ende des Jahres noch weitere Denkmäler entfernt werden sollen. Selbst um das Rigaer Sowjetdenkmal ist es noch nicht endgültig geschehen: Auf eine Beschwerde einiger russischsprachiger Bewohner Lettlands hin hat der Menschenrechtsausschuss der UN der lettischen Regierung zuletzt die Aufbewahrung der Baumaterialien bis zu einer endgültigen Entscheidung des UN-Gremiums aufgegeben.

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