Umdenken durch Bürgerprotest
Die Münchner Stadtentwicklungsplanung hat seit den 1960er Jahren einen radikalen Wandel vollzogen: von der „autogerechten Sternstadt“ zur „Stadt im Gleichgewicht“ mit dem Ausbau peripherer Zentren.
Text: Stock, Wolfgang Jean, München
Umdenken durch Bürgerprotest
Die Münchner Stadtentwicklungsplanung hat seit den 1960er Jahren einen radikalen Wandel vollzogen: von der „autogerechten Sternstadt“ zur „Stadt im Gleichgewicht“ mit dem Ausbau peripherer Zentren.
Text: Stock, Wolfgang Jean, München
Wer in den 1950er Jahren im prosperierenden Rhein-Main-Gebiet aufgewachsen ist, dem ist noch lebhaft in Erinnerung, welch überragende Rolle seinerzeit das private Automobil gespielt hat. Das Auto war ein Sinnbild für die als „American Way of Life“ verkündete Zukunft, und dieser Weg war für junge Menschen geradezu ein Leitbild.1 Das Auto war das große Freiheitsversprechen persönlicher Mobilität. Fasziniert betrachtete man damals die breiten US-amerikanischen Verkehrsstränge mit ihren elegant geschwungenen Verzweigungen und den auf mehreren Ebenen gestapelten Knoten: Die kreuzungsfreie Autobahn war eine Metapher des Jahrzehnts. In der sprunghaft zunehmenden privaten Motorisierung erblickte man sogar die Überlegenheit der kapitalistischen Wirtschaft. Eine Gesellschaft, die nicht massenhaft Fahrzeuge für breite Schichten der Bevölkerung produzierte, konnte nicht fortschrittlich sein. Und dieser Fortschritt sollte nun auch in den deutschen Städten Einzug halten, die trotz der großen Kriegszerstörungen alles andere als „autogerecht“ waren.
So überrascht es nicht, dass bis in die 1970er Jahre hinein Stadtentwicklungsplanung vor allem als Verkehrsplanung betrieben wurde. Man lese etwa das Gespräch nach, das Werner Durth 1981 mit vier prominenten Stadtbauräten der westdeutschen Nachkriegszeit geführt hat – auch dabei spielte der Verkehr eine herausragende Rolle.2 Nichts weniger als die „Endlösung der Verkehrsfrage“ erhoffte man sich bei der Neuordnung der alten Städte.3 Auch in München gab es entsprechend radikale Vorschläge. Im Jahr 1955 sah ein vom Stadtbaurat Hans Högg vertretenes „Sternprojekt“ vor, die drei bestehenden Autobahnen in einem riesigen Knoten am Westrand der Innenstadt zusammenzuführen. Die Grundidee der autogerechten „Sternstadt“ mit radial auf das Zentrum gerichteten Verkehrsachsen prägte denn auch den Stadtentwicklungsplan von 1963, der eigentlich ein Generalverkehrsplan war. Der nach seinem Schöpfer Herbert Jensen genannte Jensen-Plan beruhte auf massiven Eingriffen in die zentrale Stadtstruktur. Neben einem bis zu sechsspurigen Altstadtring propagierte er die „Isar-Parallele“ sowie eine ebenfalls neue Straße am Englischen Garten. Diese innerstädtischen Schnellstraßen sollten durch Tunnel- und Rampenbauwerke überwiegend kreuzungsfrei sein. Hunderte von Wohngebäuden wären den Maßnahmen zum Opfer gefallen. Als Ausgleich für diese Eingriffe wurde eine durchgehende Fußgängerzone vom Isartor bis zum Stachus versprochen.
Aus heutiger Sicht ein Horror, entsprach der Plan dem „fortschrittlichen“ Geist der Zeit. Doch schon zwei Jahre später erhob sich der erste, auch von prominenten Münchnern getragene Bürgerprotest. Auslöser war der Tunnel unter dem Prinz-Carl-Palais, der als empörender „Schlund“ im Stadtbild betrachtet wurde. Dieser Protest war eine Zäsur, weil er ein grundlegendes Umdenken in der Stadtplanung auslöste. München war dabei kein Einzelfall. Bürgerinitiativen bildeten sich in zahlreichen deutschen Städten. Und konsultiert man die kritische Literatur der Jahre um 1970, so stellt man verblüfft fest, dass viele der heutigen Streitthemen schon seinerzeit heftig diskutiert wurden. So trat etwa Ulrich Conrads, der langjährige Chefredakteur der Bauwelt, bereits 1972 für autoarme Innenstädte ein.4 Solchen Diskussionen musste sich auch die Münchner Stadtpolitik immer häufiger stellen. Entscheidend war dabei der jeweilige Oberbürgermeister, der nach der Bayerischen Gemeindeordnung als Vorsitzender des Stadtrats und zugleich Chef der Verwaltung eine starke Stellung hat. Drei sozialdemokratische Stadtoberhäupter haben in den vergangenen sechzig Jahren die Münchner Entwicklung wesent-lich bestimmt: der Jurist Hans-Jochen Vogel, der frühere Agrarexperte Georg Kronawitter und der Anwalt Christian Ude. Im Folgenden werden ihre Amtszeiten mit dem Fokus auf jeweils ein städtebauliches Projekt skizziert. Wurden Voraussetzungen für die 15-Minuten-Stadt geschaffen?
Großsiedlung Hasenbergl
1960 ins Amt gekommen, verstand sich Hans-Jochen Vogel als Modernisierer. Dies ist ihm in wichtigen Punkten gelungen. Indem er die Olympischen Spiele von 1972 nach München holen konnte, wurde aus dem „Millionendorf“ eine richtige Großstadt mit U-Bahn, großer Fußgängerzone und zahlreichen Neubauten. Mit dem Olympiagelände von Behnisch & Partner entstand sogar ein Jahrhundertbauwerk. Vogel erbte aber auch Proble-me und Versäumnisse. Besonders strittig blieb die städtische Verkehrspolitik. Nachdem die Proteste nicht nachließen und er selber nach einer USA-Reise von der autogerechten Stadt Abstand genommen hatte, war er klug genug, 1968 das „Münchner Forum für Entwicklungsfragen“ als unabhängigen Verein ins Leben zu rufen. Dieses Forum als kritischer Begleiter der Politik konnte seither zwar nicht alle städtebaulichen Fehler verhindern, aber zunächst die Vollendung des Jensen-Plans zunichte machen.5Daneben gründete Vogel 1970 ein eigenes Stadtentwicklungsreferat, das 1979 leider aufgelöst wurde.
Weil die Einwohnerzahl ständig zunahm, fiel in Vogels Amtszeit auch der Neubau von Siedlungen. Das erste Großprojekt war die Siedlung am Hasenbergl. Nach den Grundlagen der aufgelockerten Stadt unter Leitung der Neuen Heimat entworfen, verband sich mit ihr zugleich die Hoffnung, dort ein peripheres Zentrum der kurzen Wege zu schaffen. Eine eigene Identität ließ aber auf sich warten. Die von Karolus Heil, einem wissenschaftlichen Mitarbeiter des Entwicklungsreferats, festgestellten Defizite konnten erst viel später gemildert oder behoben werden.6 Auch weil die Siedlung bis dahin einen sehr schlechten Ruf hatte, wurde sie zwischen 1989 und 2009 grundlegend saniert, seit 1999 als ein Projekt des Bund-Länder-Programms „Soziale Stadt“.7 Auf sechs „Handlungsfeldern“ erhielt sie sozusagen einen Feinschliff: darunter Nachverdichtung ohne Beeinträchtigung der Grünzüge als Frischluftschneisen, Ergänzung von Wohnblöcken zur Raumbildung an den Straßen, Aufwertung der öffentlichen Räume. Das kleinteilige soziale Leben bereichert haben zwei neue Gebäude der Südhausbau, jeweils entworfen von Peter Ottmann: 1998 wurde die Markthalle an der Aschenbrennerstraße bezogen, wobei die roten Schmucksteine für die Fassaden von Jugendlichen in einer „Bauhütte“ hergestellt worden waren, fünf Jahre später das Gebäude der „Jungen Arbeit“ mit der Diakonie als Träger, in dem sozial benachteiligte Jugendliche beschäftigt sind. Solche kleinen Maßnahmen können einen Standort stärken.
Entlastungsstadt Neuperlach
In seiner ersten Amtszeit (1972 bis 1978) musste sich Georg Kronawitter neuen Fragen stellen. Der Olympia-Boom ebbte ab, es standen sogar Tausen-de von Wohnungen leer. Als großes Defizit sah Kronawitter den Mangel an attraktiven Erholungsflächen. Mit der Parole „Mehr Grün in die Stadt“ setzte er als erstes den 60 Hektar großen Westpark durch. Vom politischen Gegner wurde er dafür als „Grünapostel“ beschimpft. Eine Unterstützung seiner Ansichten brachte schon 1974 der neue Stadtentwicklungsplan. Unter dem Titel „Stadt im Gleichgewicht“ bedeutete er einen radikalen Bruch mit den Leitlinien des Jensen-Plans. Ein Hauptpunkt war die Förderung der Nebenzentren, um den Pendlerverkehr zu verringern. Der Straßenbau sollte eingeschränkt, der öffentliche Nahverkehr massiv ausgebaut werden. In seiner zweiten Amtszeit (1984 bis 1993) spitzte Kronawitter seine Ansichten noch zu, er sprach vom „überschäumenden Dampfkessel München“.8 Auch dieses Bild brachte ihm viel Kritik ein, er wurde als „Wirtschaftsfeind“ bezeichnet. Dabei war sein Vorschlag, die Arbeit zu den Menschen ins Umland zu bringen und nicht umgekehrt die Menschen in die überlastete Großstadt, gerade aus heutiger Sicht zukunftsweisend. Doch leider ist München bislang den anderen Weg gegangen. Ein Dauerthema der Stadtpolitik war die zwischen 1967 und 1992 – ebenfalls unter Führung der Neuen Heimat – errichtete „Entlastungsstadt“ Neuperlach. Ansonsten behaftet mit den typischen Mängeln solcher Großsiedlungen, unterschied sie sich in zwei Punkten: Zum einen wurden viele Arbeitsplätze angesiedelt (darunter von Siemens), zum anderen war ein Stadtzentrum geplant und nicht nur ein Stadtteilzentrum. Aus verschie-denen Gründen blieb dieses Zentrum unvollendet. Doch wer die Einkaufspassagen des PEP besucht, nimmt schon ein quirliges Leben wahr – von Hugendubel bis Intimissimi gibt es dort nahezu alles. Wie der räumliche Charakter als Stadt gesteigert werden könnte, dazu hat Andreas Hild mit einem Team der TU München eine Studie mit dem provozierenden Titel „Neuperlach ist schön“ erarbeitet.9 Wichtigste Forderung ist eine Verdoppelung der Dichte von derzeit 0,8 durch intelligente Blockbildung, neue Gebäudeköpfe und Aufstockungen. So könnte dieser Trabant, mit dem übrigens die meisten Bewohner zufrieden sind, durchaus eine Perspektive haben, auch als „Stadt der kurzen Wege“. Vor allem weitere kulturelle Einrichtungen wären da hilfreich.
Siedlung Nordheide
Als Christian Ude 1993 ins Amt kam, war er der erste Münchner Oberbürgermeister, der sich für Architektur als Kulturleistung interessierte. Das machte es für die Architektenschaft nicht unbedingt leichter, denn er erwies sich als kritischer Kopf. So konnte er etwa die formelhafte Fachsprache von Architekten nicht leiden. In seine bis 2014 andauernde Amtszeit fielen große städtebauliche Veränderungen, darunter die Verlagerung der Messe auf das Gelände des ehemaligen Flughafens Riem und die Entwicklung der dortigen Messestadt sowie die Neubebauung der Konversionsflächen von Bahn und Bundeswehr. In Erinnerung bleiben wird der frühere Mieteranwalt auch für seine Weigerung, die städtischen Wohnungsbestände zu verkaufen, und für die Einführung der „sozialgerechten Bodennutzung“ (SoBoN) im Sinne der Bayerischen Verfassung.
In dieser Zeit entstanden auch neue Wohnquartiere, allerdings in kleinerem Maßstab als zuvor. Ein überzeugendes Beispiel ist die zwischen 1998 und 2011 errichtete Siedlung Nordheide. Sie liegt, von einer U-Bahn gut erschlossen, auf einer Teilfläche der früher militärisch genutzten „Panzerwiese“. Durch die unmittelbare Nachbarschaft zum Hasenbergl können die Einwohner der Nordheide auch von den dortigen Einrichtungen profitieren. Für die fußläufige Belebung des Quartiers sorgt das Einkaufszentrum „Rima“ im Nordwesten und das katholische Dominikuszentrum im Südosten, die ein diagonaler Grünzug miteinander verbindet. Am Dominikuszentrum von Andreas Meck (Bauwelt 45.2008) zeigt sich wiederum, wie wichtig kirchliche Sozialeinrichtungen für das Alltagsleben in einer Siedlung sind: durch Seniorenkreise und Jugendtreffs, Kinderkrippen und Angebote für Deutschkurse.
Ausblick
Auf unsere Anfrage hin versichert Stadtbaurätin Elisabeth Merk, dass die polyzentrale Grundstruktur als „große Qualität Münchens“ ausgebaut werden soll. Das planerische Ziel bleibe „lebendige und attraktive Stadtteile mit starken Zentren und integrierte wohnortnahe Versorgungseinrichtungen in den Siedlungen.“ Neben der City gibt es derzeit schon 15 Stadtteilzentren, 17 Quartierszentren und 90 Nahbereichszentren. Dieser Ausrichtung folgt auch der im Entwurf vorliegende Stadtentwicklungsplan 2040, der wiederum den Titel „Stadt im Gleichgewicht“ trägt.
Nun ist München aber kein Monolith, wie alltägliche Beobachtungen ergeben. Nur ein Beispiel: Während in der Innenstadt Lastenfahrräder inzwischen gebräuchlich sind, fährt man in den weitläufigen Außenbezirken überwiegend öffentlich oder mit dem Auto. Diesem unterschiedlichen Verkehrsverhalten entsprechen unterschiedliche Erwartungen an die Stadtpolitik. So führt etwa der Ausbau der Radwege immer wieder zu konflikt-reichen reichen Auseinandersetzungen. Weil eine Stadt der kurzen Wege gemischte Funktionen voraussetzt, ist es auch ein Nachteil, dass in Sanierungsgebieten wie Haidhausen seinerzeit die Höfe von kleinem Gewerbe und Werkstätten freigeräumt wurden – in anderen Stadtteilen erledigt das nun die Gentrifizierung. Schließlich sollte man bei der 15-Minuten-Stadt einen Nebeneffekt mitdenken: Die Mieten wie die Kaufpreise für Gewerbe und Wohnen werden vermutlich steigen.10 Investoren und Spekulanten geben ja schon jetzt unter der Hand zu verstehen, dass ihnen jede Verkehrsberuhigung willkommen ist.
1 Zu den amerikanischen Einflüssen siehe Alexander Stephan und Jochen Vogt (Hrsg.): America on my mind. Zur Amerikanisierung der deutschen Kultur seit 1945, München 2006
2 Max Guther, Rudolf Hillebrecht, Heinz Schmeissner, Walther Schmidt im Gespräch mit Werner Durth, in Stadtbauwelt 72, Berlin 1981
3 Gerhard Fehl: Ein Schlückchen „Zeitgeist“, Jahrgang 1964, in: Für Ulrich Conrads von Freunden, Braunschweig 1988, S. 41
4 Ulrich Conrads: Architektur – Spielraum für Leben, München u.a. 1972
5 Siehe die Chronik von Oskar Holl: 50 Jahre zwischen Planung, Leben und Politik, in: Wir alle sind München. 50 Jahre Münchner Forum, München 2018, S. 14–25
6 Karolus Heil: Neue Wohnquartiere am Stadtrand, in Wolfgang Pehnt (Hrsg.): Die Stadt in der Bundesrepublik, Stuttgart 1974, S. 181–200
7 Landeshauptstadt München (Hrsg.): Stadtteilsanierung Hasenbergl, München 2011
8 Georg Kronawitter: Mit aller Leidenschaft. 20 Jahre Politik für München, München 2001, S. 36
9 Andreas Hild, Andreas Müsseler (Hrsg.): Neuperlach ist schön. Zum 50. einer gebauten Utopie, München 2018
10 Thomas Beyerle: Die 15-Minuten-Stadt. Der schwierige Umbau des urbanen Lebens, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ressort Immobilien, 20. August 2021
0 Kommentare