Bauwelt

Zwanzig Meter höher

Kann man sich vorstellen, dass San Francisco die Golden Gate Bridge abreißt, um sie gegen eine leistungsfähigere Kopie zu ersetzen? In Hamburg wird über ein ähnliches Vorhaben gestritten.

Text: Scheffler, Tanja, Dresden

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    Von der Hamburg Port Authority in Auftrag gegebene Perspektive einer möglichen neuen Brücke über den Köhlbrand, März 2024.
    Illustration: Gärtner und Christ Architektur | Darstellung, Hamburg

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    Von der Hamburg Port Authority in Auftrag gegebene Perspektive einer möglichen neuen Brücke über den Köhlbrand, März 2024.

    Illustration: Gärtner und Christ Architektur | Darstellung, Hamburg

Zwanzig Meter höher

Kann man sich vorstellen, dass San Francisco die Golden Gate Bridge abreißt, um sie gegen eine leistungsfähigere Kopie zu ersetzen? In Hamburg wird über ein ähnliches Vorhaben gestritten.

Text: Scheffler, Tanja, Dresden

Soll die denkmalgeschützte Köhlbrandbrücke zugunsten einer stabileren und vor allem größeren Version ihrer selbst weichen?
Der Hamburger Hafen ist der größte Seehafen Deutschlands und Hamburgs „Tor zur Welt“. Gemessen an der Anzahl umgeschlagener Container, gehört er nach Rotterdam und Antwerpen zu den drei größten Häfen Europas. Während des Zweiten Weltkriegs wurde das Hafengebiet stark zerstört, daher stammen viele der dort errichteten Bauwerke aus der Zeit nach 1945. Die meisten Brücken dieser Ära bestehen größtenteils aus Stahl- oder Spannbeton. Müssen sie saniert werden oder verändern sich die Nutzungsansprüche, ersetzt man sie häufig umstandslos durch neue. So befinden sich die Infrastrukturbauwerke des Hafens seit langem in stetigem Wandel, der kaum beachtet wird. Anders bei der denkmalgeschützten Köhlbrandbrücke: Sie ist eine elegant geschwungene Schrägseilbrücke mit sehr hohen, bereits von weitem sichtbaren Pylonen. Auch sie soll demnächst durch einen noch deutlich höheren Nachfolger ersetzt und danach abgerissen werden. Dagegen regt sich Widerstand.
Die Köhlbrandbrücke überspannt den Köhlbrand genannten, südlichen Seitenarm der Elbe und verbindet als wichtigste Ost-West-Trasse innerhalb des Hafens die Elbinsel Wilhelmsburg mit der Autobahn A7. Stromaufwärts hinter der Brücke befinden sich petrochemische Industrieanlagen und das 2002 eröffnete Container-Terminal Altenwerder, daher wird der Köhlbrand mit immer größeren Schiffen befahren. Für eine derartige „Kreuzung“ des Wasserwegs mit dem Straßen- und Zugverkehr gibt es eigentlich nur zwei immer wieder diskutierte Varianten: Tunnel oder Brücke. Tunnel sind meist teurer als Brücken, und es dauert länger, sie zu bauen.
Deshalb war 1969, als der Hafen massiv ausgebaut wurde, ein Wettbewerb für eine Hochbrücke ausgeschrieben worden, die eine lichte Durchfahrtshöhe von 53 Metern haben sollte, um die Passage großer Tanker zu ermöglichen. Fast alle eingereichten Entwürfe waren Schrägseilbrücken in unterschiedlicher Gestaltung – sind diese bei derartigen Spannweiten doch besonders wirtschaftlich. Und sie lassen sich, wegen des von den Pylonen abgehängten Balkens, im Strombereich zügig im Freivor­bau realisieren. 1970 wurde eine Arbeitsgemeinschaft aus sieben Baukonzernen und Ingenieurbaufirmen mit dem Projekt beauftragt, die das gewaltige Bauwerk bis 1974 fertigstellte.

Egon Jux’ Brücken

Der knapp vier Kilometer lange Brückenzug besteht aus drei Teilen: Der mittlere, etwa 520 Meter lange, schrägseilverspannte Stromüberbau mit den filigranen, 135 Meter hohen Pylonen ist aus Stahl, die beiden seitlich über das Hafengelände führenden Rampenanlagen sind größtenteils aus Spannbeton. Entworfen wurde das Bauwerk von einer Gruppe von Bauingenieuren: Paul Boué (1920–2016) von der Rheinstahl AG war für das Herzstück, die stählerne Strombrücke mit der Schrägseilkonstruktion, verantwortlich, Hans Wittfoht von der Brückenbaufirma Polensky & Zöllner für die Rampenbauwerke; die Ostrampe verläuft schnurgerade über Neuhof, die elegant gekurvte Westrampe über den Rugenberger Hafen.
An der Gestaltung des Brückenzuges war auch der Architekt Egon Jux (1927–2008) beteiligt. Jux hatte die Ingenieurschule in Bremen absolviert und anschließend an der HFBK Hamburg in der Meisterklasse von Werner Hebebrand studiert. Während diverser Auslandsaufenthalte lernte er in Paris Le Corbusier, in Boston Walter Gropius und in Brasilien Oscar Niemeyer kennen; mit dem Landschaftsarchitekten Roberto Burle-Marx war er befreundet. Jux war an mehreren Rhein-, Saar- und Moselbrücken, der Diffenébrücke im Industriehafen von Mannheim, der Flößerbrücke in Frankfurt am Main und einer größeren Anzahl von Brücken in Schweden beteiligt, entweder als Architekt oder als architektonischer Berater. Viele dieser Bauten waren wichtige, identitätsbildende Infrastrukturprojekte, für die Jux Auszeichnungen erhielt. Die Köhlbrandbrücke gewann 1975 den Europäischen Stahlbaupreis als „schönste Brücke des Kontinents“.
Frühe Formen der Schrägseilbrücken wurden bereits im 19. Jahrhundert gebaut, die Albert Bridge in London etwa stammt aus dem Jahr 1872. Moderne, auf Funktionalität getrimmte Schrägseilbrücken setzten sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch. Entscheidend für die ästhetische Wirkung der Brücke ist, neben der Anordnung der Seile, die Art, wie man die Pylone ausführt. Bei der Köhlbrandbrücke wurden die Seile fächerförmig angeordnet. So konnten die an Nadelöhre erinnernden Stahlpylone, die Stahlbetonpfeiler und Fundamente besonders schmal gehalten werden.

Überbelastet und zu niedrig

Lange schon fahren wesentlich mehr Fahrzeuge über die Köhlbrandbrücke, als seinerzeit vorausgesehen und geplant. Eine sukzessive Bauteil­ermüdung ist die Folge, die seit mehr als zwanzig Jahren von Fachleuten streng überwacht wird. Seit ihrer Errichtung sind zudem die Containerschiffe, die die Weltmeere befahren, immer größer geworden. Inzwischen müssen einige von ihnen beim Ein- und Auslaufen den Tidenhub beachten, andere passen gar nicht mehr unter der Brücke hindurch. Das hinter der Köhlbrandbrücke liegende Container-Terminal Altenwerder ist jedoch speziell für Schiffe der neusten Generation konzipiert worden.
Deshalb möchte die Hamburg Port Authority (HPA), die das Hafengebiet verwaltet, die Flächen verpachtet und sich um die Infrastruktur kümmert, die Köhlbrandbrücke „durch eine andere Infrastrukturlösung ersetzen“ und die Brücke danach abreißen lassen. Zeitweise war eine Tunnellösung im Gespräch, doch die ist mittlerweile wegen der höheren Kosten vom Tisch. Stattdessen brachte die HPA vor einigen Monaten die Visualisierung einer neuen, deutlich höheren Schrägseilbrücke in Umlauf, die vage an die bestehende Köhlbrandbrücke erinnert. Anfang April beschloss die Hamburger Bürgerschaft auf Grundlage einer umfangreichen Senats-Drucksache („Neubewertung der Alternativen einer Köhlbrandquerung – Entscheidung für den Ersatzneubau einer Brücke“) die Planung eines neuen Brückenbauwerks, einhergehend mit dem späteren Abriss der historischen Brücke. Der Beschluss sorgte überregional für Entsetzen.
Die Durchfahrtshöhe der neuen Brücke soll gut zwanzig Meter höher werden (dann 73,50 Meter); man orientiert sich an der Suezkanal-Brücke mit ihrer lichten Höhe von 70 Metern. Die im Auftrag der HPA erstellte Visualisierung zeige, so die zuständige Hamburger Behörde für Wirtschaft und Innovation, jedoch lediglich eine „unverbindliche Anmutung“ der geplanten Brücke. Ihre konkrete Gestalt werde Gegenstand eines aktuell in Planung befindlichen Wettbewerbs. Die Hamburger Wirtschaftssenatorin hat vollmundig angekündigt, die „neue Köhlbrandbrücke soll schneller fertig werden als geplant“ – so muss man wohl bereits jetzt davon ausgehen, dass eine möglichst günstige und zügig realisierbare Entwurfsvariante zur Ausführung empfohlen werden wird.

Denkmal Köhlbrandbrücke

Die überlieferte Köhlbrandbrücke ist schon vor längerer Zeit aufgrund ihrer „geschichtlichen Bedeutung und zur Bewahrung charakteristischer Eigenheiten des Stadtbildes“ als „erkanntes Denkmal“ intern vom Denkmalschutzamt unter Schutz gestellt und im Jahr 2013 auch in die örtliche Denkmalliste aufgenommen worden. Ein weiterer entscheidender Aspekt der Denkmalwürdigkeit ist ihre Gestaltung: „Dabei stechen sowohl die geradezu filigran wirkenden Pylone heraus, die als langgestrecktes A beschrieben werden können, als auch der elegante Schwung der Fahrbahn, die sich selbstbewusst und ortsbildprägend in die Landschaft einfügt.“
Der Brückenbau war früher die Königsdisziplin des Ingenieurbaus, entstanden doch oft kühne Bauwerke, die zur Bauzeit als Inbegriff des technischen Fortschritts galten und heute eindrucksvolle Zeugnisse damaliger Baukunst darstellen. Inzwischen allerdings sind Verkehrs- und Infrastrukturbauten eine Todeszone der Denkmalpflege, die sich mit ihrem Wunsch nach Erhalt der Originalsubstanz häufig nicht durchsetzen kann, wenn infolge von Materialermüdung oder neuen Nutzungsansprüchen Ersatzneubauten gefordert werden. Auch die Hamburg Port Authority sitzt bei ihrer Entscheidung letztlich am längeren Hebel. Das Denkmalschutzgesetz sieht vor, dass ein Denkmal im Ausnahmefall abgerissen werden darf, sollten überwiegende öffentliche Interessen es verlangen.
Die Weichen zum „Rückbau“ der Köhlbrandbrücke wurden mit der Senats-Drucksache bereits gestellt: „Angesichts des Bauwerkszustandes der Köhlbrandbrücke, des dringenden verkehrlichen Bedarfs an einem neuen Querungsbauwerk und der Entwicklungspotenziale für den südlichen Hafenbereich, die sich durch neue Möglichkeiten der Passage größerer Schiffe ergeben, wird (…) die Zurückstellung denkmalfachlicher Belange im Planungsprozess geprüft und abgewogen.“

Ersetzen oder erhalten?

Aus Sicht der Hamburg Port Authority bietet der angestrebte Ersatzneubau nur Vorteile. Sie kann die Restlebensdauer der alten Köhlbrandbrücke durch das umfassende Monitoring bis zum Äußersten ausreizen. Und unter einer neuen, deutlich höheren Brücke können auch die größten Schiffe problemlos passieren. Vielleicht würde Hamburg sogar wieder in den internationalen technisch-konstruktiven Rankings (Länge des freispannenden Brückenüberbaus, lichte Höhe) mitspielen; die Suezkanal-Brücke galt nach ihrer Fertigstellung im Jahr 2001 zeitweise als höchste Schrägseilbrücke der Welt, die im flachen Land gebaut wurde.
Doch es gibt gute Gründe dafür, nach einer Alternative zu suchen, die es zulässt, die historische Köhlbrandbrücke zu erhalten. Sie ist ein einzigartiges Ingenieurbauwerk der frühen 1970er Jahre, mit einer hohen architektonischen Qualität, voller gekonnter Details. Derart filigrane Stahlpylone findet man heute nur noch selten, die meisten Pylone neuerer Schrägseilbrücken bestehen aus Kostengründen aus Beton. Nicht zuletzt prägt die markante Brücke seit fast fünfzig Jahren das Hamburger Stadtbild. Ihre Bedeutung für die Stadt lässt sich durchaus mit jener der Brooklyn Bridge für New York oder der Golden Gate Bridge für San Francisco vergleichen.

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