Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert
Geschichte, Gesellschaft, Funktionen
Text: Redecke, Sebastian, Berlin
Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert
Geschichte, Gesellschaft, Funktionen
Text: Redecke, Sebastian, Berlin
Der Untertitel „Geschichte, Gesellschaft, Funktionen“ weist darauf hin, worum es Winfried Nerdinger geht. Er hat ein Werk zur deutschen Architekturgeschichte im 20. Jahrhundert geschrieben, das in einem deutlich weiter gefassten Kontext einzuordnen ist. Wichtig ist ihm die Sicht auf Zusammenhänge. In der Einführung schreibt er: „Nicht Betrachtungen von einzelnen Bauten und Planungen, sondern die vielfältigen Bedingungen der Bau- und Planungstätigkeit und deren architektonische Ausformung im Wechselspiel der Kräfte stehen (…) im Vordergrund, um die Wege von 100 Jahren Architektur in Deutschland zu erhellen.“
Das 20. Jahrhundert umfasst in diesem Buch die Zeit von 1890 bis 1990. Nerdingers Untersuchung setzt um 1890 ein, da „in der folgenden Dekade mehrere ineinandergreifende, auch für die Architektur konstitutive Ereignisse wirksam werden: Die Entlassung Otto von Bismarcks im März 1890 und die folgende Herrschaft Wilhelms II. markieren einen politischen Epochenwechsel, der zum Ersten Weltkrieg führt sowie wilhelminischen Pomp und monumentale Repräsentation verstärkt“. Im Jahr 1990 beginnt mit der Einheit Deutschlands eine neue Ära. Die besonders für die Hauptstadt Berlin prägenden Jahre danach finden auf den nur zehn Seiten „Wiedervereinigung und Ausblick“ kurz, aber mit dezidierter Meinung Beachtung. Nerdinger zitiert Günter Grass mit „Ein Schnäppchen namens DDR“ und sieht eine „brachiale Umstrukturierung von Wirtschaft und Gesellschaft“ durch die Treuhandanstalt. Der Potsdamer Platz ist unter dem „Diktat von Kapital und Gewinnmaximierung eine reine Kommerz- und Investorenarchitektur“, das Bundeskanzleramt eine „mächtige betonierte Festung“. Er bedauert, dass dagegen die IBA Emscher Park, die als Experimentierfeld für nachhaltiges und ressourcenschonendes Bauen nahezu zeitgleich stattfand, in den Hintergrund trat. Sie ist für ihn die „wohl bedeutendste Leistung im deutschen Bauwesen der 1990er Jahre“.
Erfreuliches erkennt er im Osten nur in der Städtebauförderung für intakte Altstadtbereiche, die saniert wurden. Die Tendenz ist klar: In Dresden ist das Kinocenter von Coop Himmelblau ein kontextloses „Werbezeichen der Architekten“ und gehört zum „Maskenball der Sin-gularitäten eines „ökonomisch basierten Attraktivitätsmarkts“. In vollen Zügen lobt Nerdinger hingegen die Rekonstruktion – er nennt es eine perfekte Wiederholung – der Frauenkirche. Erwähnung finden auf den zehn Seiten „Wiedervereinigung und Ausblick“ zudem noch die gravierenden Einflüsse der Digitalisierung des Entwerfens am Rechner und die computergesteuerte maschinelle Produktion von Bauteilen. Tendenzen und Ausblicke der letzten zwanzig Jahre finden keine Berücksichtigung mehr.
Jedes Kapitel im Buch beginnt entsprechend der Intention, Zusammenhänge herauszuheben, mit „Bauwirtschaft, Baupolitik, Berufsstand“. Die Vertiefung hinsichtlich der Voraussetzungen und beruflichen Organisation zu Beginn der Kapitel ist sehr informativ. Nur das mit 30 Seiten kurze vierte Kapitel „Nachkrieg 1945–1949“ beschränkt sich auf die Themen „Verdrängung Vi-sionen Realität“ – ein gut erklärendes Fundament der damaligen Verhältnisse mit den Aufbauplänen und der Paulskirche in Frankfurt am Main.
Das erste Kapitel „Kaiserreich 1880–1918“ beschreibt zunächst den Grundstücksmarkt, die Bautechnik mit Eisenkonstruktionen und Stahlbeton, den Baubetrieb und die Ausbildung auf der Baustelle – erst danach kommen die Bauten, die monumentale Repräsentation des Kaisers Wilhelm II. mit dem überladenen Berliner Dom eines Julius C. Raschdorff oder der Rekon-struktion der Hohkönigsburg im Elsass. Dann folgt der Schritt in die neue Zeit mit Architekten wie Otto Wagner, Henry van der Velde, Joseph Maria Olbrich und Peter Behrens. In diesem Kapitel nimmt auch das Thema Heimatschutz um die Jahrhundertwende „zur Hebung des Nationalismus“ viel Raum ein. Die regionale Baukunst wird gestärkt mit Verschönerungen durch neue Fassaden zum Beispiel für die Altstadt von Bremen oder in einer „Erfindung von Tradition“ mit der Verwandlung von Bauten wie des Rathauses in Alsfeld, des Hofbräuhauses in München oder des Marienstifts in Bad Tölz.
Es folgen Kapitel zwei „Weimarer Republik 1918–1933“, in dem neben der bekannten Entwicklung der Moderne auch besonders die Themen Stadtumbau und Landesplanung Beachtung finden, und Kapitel drei „Nationalsozialismus 1933–1945“ mit vielen Seiten zur Raumordnung, zum „Lebensraum“ im „Germanischen Großreich“, und detailliert zur Gleichschaltung der Hochschulen. Nach dem bereits erwähnten kurzen Kapitel zur unmittelbaren Nachkriegszeit behandelt das fünfte Kapitel die lange Epoche von 1949 bis 1990. Nerdinger gibt ihm den Titel „Systemkonkurrenz: BRD und DDR“. Die Entwicklungen werden in den verschiedenen Abschnitten mal mehr, mal weniger vergleichend gesehen, was sehr aufschlussreich ist. Wichtig sind natürlich die Themen Wohnungsbau in Ost und West mit der Ökonomisierung und Industrialisierung des Bauens. Die Zeit der 1980er Jahre mit der Postmoderne, der heftig diskutierten neuen Staatsgalerie in Stuttgart und der IBA 1984/87 in Berlin werden als „internationa-le Modenschau“ in der Folge der Strada Novissima von Venedig 1980 bezeichnet. Die Architektur eines Hans Scharoun, Sep Ruf oder Frei Otto, dazu generell das Thema Reparatur städtischer Iden-tität, liegen Nerdinger mehr. Wie intensiv sich der Autor in die Forschung vertieft hat, mit dem Ziel, größtmöglich Voraussetzungen und Einflüsse einzubinden, zeigt sich in der 88 Seiten umfassenden Bibliographie und den 70 Seiten Anmerkungen mit allein 725 Anmerkungen zum Kapitel „Systemkonkurrenz: BRD und DDR 1949-1990“.
Lässt dieses ausführliche Werk par excellence Lücken offen? Es kommen einem in jedem Kapitel andere Bauten, Architekten oder Regionen Deutschlands mit Einfluss auf das Planungs- und Baugeschehen in den Sinn, die keine oder nur am Rande Beachtung gefunden haben. Dies kann nicht anders sein, und wie in jedem neuen Buch, das Bau- und Stadtbaugeschichte umfassend darstellt, freut man sich auch hier über bisher Unbekanntes, neue Hervorhebungen und Querbezüge.
Die Bauten und Projekte selbst, die für Nerdinger das Jahrhundert prägen, werden reduziert in Schwarzweißfotos und mit Zeichnungen eingefügt. Sie treten zurück, sind eigentlich nur Illus-trationen zur Information – angemessen für die inhaltliche Ausrichtung des Buchs. Es ist aber bedauerlich, dass bei einer Reihe von Abbildungen mangelhafte Vorlagen für den Druck zur Verfügung standen. Der hohe Anspruch von umfassender, gründlicher Recherche wird dadurch geschmälert.
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