Bauwelt

EM2N

Stadtfabrik

Text: Geipel, Kaye, Berlin

EM2N

Stadtfabrik

Text: Geipel, Kaye, Berlin

Ein neuer Ziegelstein im Buchformat liegt vor. Gemeint sind Architekten-Bücher, die über die eigene Werkdokumentation hinaus ein großes Thema der aktuellen Architekturdebatte behandeln und entsprechend schwergewichtig ausfallen. Der aktuelle Band des Zürcher Architekturbüros EM2N, 30 Zentimetern hoch, knapp 2 Kilo schwer und über 500 Seiten dick, findet im Bücherregal nur unter seinesgleichen Platz. Die Kolleginnen der Schweizer Zeitschrift Hochparterre sprachen jüngst, angesichts einer ganzen Welle solcher Ziegelstein-Publikationen, von einer „Büchermanie“ vieler Büros. Das Vorläufer-Buch von EM2N, 2009 unter dem Titel „Sowohl als auch“ erschienen, passt jedenfalls noch problemlos in die Reißverschluss-Tasche eines Rucksacks.
Schon der Titel des neuen Bands, „Stadtfabrik“, macht deutlich: Den Architekten Mathias Müller und Daniel Niggli und den beteiligten Mitherausgeberinnen Medine Altiok und Caspar Schärer geht es um mehr als um eine Dokumentation der Architektur. Präsentiert werden neben 30 häufig stadtbildprägenden Wettbewerbsprojekten und Bauten – wie etwa dem jüngst fertiggewordenen, 550 Meter langen Büroriegel an der Berliner Heidestraße (S. 38) – analytische Essays, Stadtpläne, historische Fotos und Kommentare von Fremdautoren, die sich der Frage nach dem Konzept der heutigen Stadt widmen. Unterlegt ist dieser Band von einem Mix an herausragenden Stadtfotos, dazu kommen sogenannte Love Letters für einzelne Bauten von James Stirling, Lina Bo Bardi, Jean Nouvel und anderen Ikonen sowie Schwarz-Weiß-Strichzeichnungen städtischer Atmosphären des Künstlers Ingo Giezendanner.
Bereits 2009 formulierten Müller und Niggli ihre städtebaulichen Überlegungen so: Entscheidend für ihre Projekte sei nicht nur die Architektur, sondern die „Aktivierung von Außenraum“ – es gehe ihnen um eine „integrative Vernetzung von Architektur, Infrastruktur, Landschaft und Ökologie“. Den städtischen Diskurs eröffnen die beiden Architekten im neuen Band mit einer Hommage an das Konzept des 1977 von Oswalt Mathias Ungers entwickelten Stadtarchipels – einem entwerferischen Denken für die polyzentrische Stadt also, das von den Brüchen und Differenzen der existierenden Strukturen ausgeht und das in einem zweiten Schritt die Qualitäten der so deklarierten urbanen „Inseln“ zu stärken sucht.
Doppelseitige Karten zeigen die Projekte von EM2N als räumlich differenzierte Inseln mit Bezug zu den grau-blau-grünen Infrastrukturen derumgebenden Topographie, zu Straßen, Wasserläufen und Grünräumen. Der Entwurf ist Teil eines produktiven Zusammenhangs. „Stadtfabrik“ bedeutet in diesem Fall ganz wörtlich die Schwerpunkte der eigenen Entwurfsarbeit aus den Re-lationen zu den bestehenden Stadtstrukturen abzuleiten: Angefangen bei der Frage nach dem großen Maßstab der Akkumulation – also der urbanen Verdichtung – über die mögliche Aneignungsfähigkeit und die „lernende Form“ des Entwurfs bis hin zur heute häufig diskutierten Feststellung „Alles ist Umbau“. Sucht man in der Fülle der zitierten Begriffe nach einem Leitmotiv, das die Arbeiten von EM2N am treffendsten kennzeichnet, so sind es wohl die „infrastrukturellen Häuser“, denen ebenfalls ein eigener Essay gewidmet ist und das die europäische Debatte um die „Productive City“ (vgl. Stadtbauwelt 211) aufgreift.
Die penible Analyse unterschiedlichster Infrastrukturen und das so praktizierte relationale Entwurfsverfahren befähigte Müller und Niggli schon früh im Verlauf ihrer Karriere, große Umbau-Wettbewerbe für leerstehende Industrieareale zu gewinnen, wie etwa das 2005 konzipierte und 2014 fertiggestellte Toni-Areal in Zürich (Bauwelt 34.2014). Die Transformation der ehemaligen Zürcher Großmolkerei in einen Hochschulstandort wurde seit seiner Fertigstellung schnell zu einem Wallfahrtsort für Architektinnen und Planer, die ähnliche Industriebauten einer neuen Nutzung zuführen.
Ein vergleichbar großer und ambitionierter Bau entsteht aktuell in Zusammenarbeit mit noAarchitecten und Sergison Bates in Brüssel. Der Umbau der einstigen Citroën-Garagen zum größten belgischen Kunst-und-Kulturzentrum und zur Dependance des Pariser Centre Pompidou zeigt, wie leichtfüßig und doch bis ins Detail ausgeklügelt ein solcher Umbau gelingen kann. Die existierende Erschließung wird weitgehend offen belassen und die neuen Nutzungen, Museums-, Ausstellungs- und Veranstaltungsräume nisten sich wie Intarsien in die gerade so sanierte historische Konstruktion ein.
Aus deutscher Sicht, wo an derartig großformatige Umbauprojekte gern der Maßstab der Perfektion eines Neubaus gelegt wird, mag man sich über die gezeigte Improvisationskunst freuen, zumal sie den öfters geäußerten Vorwurf entkräftet, die Schweizer Architektur sei zwar vorbildlich, aber angesichts der zur Verfügung stehenden Mittel immer auch einen Tick zu opulent. Die Architekten selbst verweisen ganz im Gegenteil auf Roland Barthes Text zum „Nullpunkt der Literatur“, in dem der Autor – in diesem Fall ist die Handschrift der Architekten gemeint – zugunsten einer zeitgemäßen Produktionsform ins unsichtbare Off zurücktritt. Marc Angélil spricht am Ende des Bandes von einer „zurückhaltenden Autorschaft“ (480), was die Arbeitsweise von EM2N vielleicht etwas genauer trifft.
Das Erfolgsgeheimnis des Büros, das inzwischen Dependancen in Berlin und in Brüssel unterhält, liegt in der Souveränität, in der sie aus dem Patchwork unzähliger kontextueller Analysen eine von vielen Dutzend Begründungen unterlegte architektonische Assemblage entstehen lassen, wie sie in dieser Qualität nur wenige Büros beherrschen. Wer einmal durch das ausgreifende Labyrinth des Toni-Areals gestreift ist und trotz des harten Minimalismus der äußeren Form Schritt auf Tritt von innenräumlichen Erfindungen überrascht wurde, die doch einem roten Faden folgen, findet dann auch die Metapher einer architektonischen Insel inmitten eines städtischen Archipels überzeugend.
Fakten
Autor / Herausgeber Mathias Müller, Daniel Niggli, Caspar Schärer undMedine Altiok
Verlag Park Books, Zürich 2023
aus Bauwelt 3.2025
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