Hans Scharoun im Ruhrgebiet
Entwerfen und Bauen für das Leben
Text: Escher, Gudrun, Berlin
Hans Scharoun im Ruhrgebiet
Entwerfen und Bauen für das Leben
Text: Escher, Gudrun, Berlin
Dieses Buch ist, abgesehen von der äußeren Form eines broschierten Bandes im handlichen Format, anders als gewohnte Architekturbücher. Die Herausgeber des Sammelbandes sind zwar Architektur-Kundige, aber in erster Linie Aktivisten einer bürgerschaftlichen Bewegung zum Erhalt von drei Bauwerken, die alle drei vor gar nicht langer Zeit noch stark gefährdet waren. Vernachlässigung, Geldmangel, Unverständnis, rationalistische Schulpolitik, Entfremdung – der schleichende Niedergang der beiden Schulkomplexe in Marl und Lünen und der kleinen Johanneskirche in Bochum, die nach den Plänen des Berliner Architekten Hans Scharoun gebaut worden sind, hatte viele Ursachen (Bauwelt 25.2013, 25.2016). Das Buch nun, das über die Bauten nähere Auskunft gibt, will kein wissenschaftlicher Werkbericht sein und gibt doch vielfältige erhellende Einblicke. Es fragt nach Ursachen und Wirkungen, es dokumentiert den Prozess einer Bewusstwerdung und spart nicht mit harscher Kritik an gedankenlosem Pragmatismus von Verwaltungen. Es ist zugleich objektiv und sehr persönlich. Und es ist Frucht der gemeinsamen Anstrengungen von vielen Menschen und Institutionen, die zur Sicherung der Bauwerke und jetzt auch zum Inhaltlichen wie finanziellen Gelingen der Publikation beitrugen.
In der minutiösen Beschreibung der Entwurfspraxis für die heute so benannte Scharoun-Schule in Marl führt Michael Hellgardt, 1962–72 Mitarbeiter im Büro Scharoun und Projektleiter für ebendiese Schule, aus: „Über Scharoun ist viel geschrieben worden. Der Schwerpunkt lag dabei auf den Programmen, Errungenschaften und Verheißungen organischer Architektur, dem, was Scharoun entwarf, aber nicht dem Wie der Methode … ebenso wenig ist geschrieben worden, wie seine Entwürfe gebraucht wurden, und schon gar nicht über die Bedeutung, die Scharouns Werk heute, nach gut 60 Jahren ... hat oder haben könnte.“ Diese fast beiläufige Feststellung mitten im Buch beschreibt das Programm der Publikation sehr treffend. Die Einordnung der Projekte im Ruhrgebiet in das Gesamtwerk ist knapp gefasst – außer den drei ausgeführten Bauten werden zwischen 1919 und 1971 zehn prominente Wettbewerbsbeiträge erläutert, darunter ein Entwurf für den Hauptfriedhof in Dortmund, die „Wiese“ und später das Musiktheater in Gelsenkirchen, das Rathaus Marl. Insgesamt seien 14, möglicherweise 15 Projekte für Standorte im Ruhrgebiet (24 in ganz NRW) erarbeitet worden. Programmatische Titel verschiedener Textbeiträge über „Stadtlandschaft, Wohnzelle und Weg“ von Manfred Walz, über den Raum als „dritter Pädagoge“ von Günter Braunstein oder „Von der ‚Kirche als Fels‘ zur ‚Kirche als Zelt‘“ von Tom Tritschel eröffnen vielseitige Perspektiven auf die Bauwerke im Kontext der Stadt bis in die Details der Raumordnungen und Materialien. Anschaulich werden die Textbeiträge dort, wo von den Chancen, aber auch Begrenzungen der denkmalgerechten Sanierung berichtet wird und davon, wie selbstverständlich sich diese sprichwörtlich in die Jahre gekommenen Baukomplexe den heutigen pädagogischen Konzepten und Nutzungskombinationen anpassen. Nicht zuletzt lassen die praxisbetonten Beobachtungen der Schulleiter in Marl und Lünen und des Pfarrers aus Bochum erahnen, was das Geheimnis der Scharoun’schen Architektur ausmacht: „Statt Perfektion Improvisation, die den Weg der Entwicklung offenhält“, zitiert Tritschel den Baumeister selbst anlässlich der Verleihung des Erasmus-Preises in Rotterdam 1970.
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