Housing Atlas
Europe 20th Century
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Housing Atlas
Europe 20th Century
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Als 1994 Friederike Schneiders „Grundrißatlas Wohnungsbau“ im Birkhäuser Verlag erschien, lag ein Standardwerk vor, mit dem seither etliche Architekturschaffende gearbeitet haben dürften: 2018 erschien bereits die 5. Auflage, die 160 seit 1945 entstandene Wohnungsbauten dokumentiert. Nun gibt es ein weiteres Übersichtswerk zum Thema Wohnungsbau, erschienen im Londoner Verlag Lund Humphries und zusammengestellt von einem internationalen Team, bestehend aus Orsina Simona Pierini (Mailand), Carmen Espegel (Madrid), Dick van Gameren (Rotterdam) und Mark Swenarton (London). Anders als der lang etablierte Titel ist der neue Atlas zugleich fokussierter wie allgemeiner – er beschränkt sich auf Europa, umfasst aber das ganze 20. Jahrhundert. Und das mit nur halb so vielen Projekten, nämlich 87 an der Zahl. Daraus ergeben sich Stärken und Schwächen.
Zunächst, weil es den ersten Eindruck bestimmt, ein Vorzug: das übersichtliche, einheitliche Layout mit neu gezeichneten Plänen der vorgestellten Wohnungsbauten in einheitlichem Maßstab (1:10.000, 1:1000 oder 1:500 und 1:250), was zum Vergleichen einlädt. Eine weitere Stärke: der sinnfällige, chronologische Aufbau, der die Entwicklung von bestimmten Themen und Fragestellungen – etwa das Verhältnis der einzelnen Wohnung zum gemeinschaftlichen Raum und dieses gemeinschaftlichen Raums zur Umgebung oder die horizontale und vertikale Erschließung der Quartiere anschaulich und nachvollziehbar macht. Leider fehlen Erdgeschossgrundrisse komplett, was die Verwebung der Gebäude mit ihrer Umgebung im Unklaren belässt, und auch die Gestaltung der Freiräume spielt in den Übersichtsplänen keine Rolle. Da nur wenige Fotos enthalten sind, zudem keine heute aufgenommenen, bleibt die Qualität der Außenräume undeutlich. Das Ganze wirkt etwas stur in seiner unerbittlichen Konsequenz, das Arbeiten mit dem Buch aber dürfte dadurch leichtfallen, etwa mit Fragen zur Typologie der enthaltenen Wohnanlagen.
Zu den Schwächen: Dem im Untertitel erhobenen Anspruch, den europäischen Wohnungsbau im 20. Jahrhundert abzubilden, kann der Band nicht gerecht werden. Das ist im Prinzip nicht schlimm, die potenzielle Zielgruppe sollte es nur wissen: Das Buch enthält 87 Projekte, keins mehr, keins weniger, vornehmlich aus UK, NL, Frankreich und Spanien, ergänzt um ein paar versprengte skandinavische, italienische und portugiesische Beispiele; Deutschland und Österreich sind (abgesehen von Scharouns Romeo und Julia) immerhin mit ein paar Beispielen der Zwischenkriegsmoderne vertreten. Dabei hätte ein Zusatz genügt: „Part 1 - Northern, western and southern Europe“, um keine falschen Erwartungen zu wecken. Denn etwas irritierend ist es schon, dass sich nicht ein einziges Projekt finden lässt, das nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Ostseite des „Eisernen Vorhangs“ realisiert worden ist – kein sowjetisches und kein rumänisches, kein jugoslawisches, kein tschechisches und kein ungarisches, kein polnisches und kein ostdeutsches. Trotzdem gewähre ich diesem Atlas gerne einen Platz im Bücherregal der Bauwelt-Redaktion – nicht nur, weil ich ein Faible habe für sture Buchkonzepte, die nicht mit graphischen Einfällen vom Kern der Sache ablenken, sondern auch weil es als Architekturführer taugt, zur Vorbereitung einer Reise nach Paris oder Amsterdam, London, Madrid oder Mailand.
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