Landbahnhöfe
Ressourcen nachhaltiger Landschaftsentwicklung
Text: Kil, Wolfgang, Berlin
Landbahnhöfe
Ressourcen nachhaltiger Landschaftsentwicklung
Text: Kil, Wolfgang, Berlin
Riesig dürfte die Zahl der Bahnreisenden sein, die landauf, landab unterm Anblick all der vielen zugenagelten und dem Verfall gnadenlos preisgegebenen Bahnhöfe leiden. Die Bundesstiftung Baukultur beklagt, dass von 5664 Bahnhöfen in Deutschland nur noch sehr wenige Städte Gebäude in Eigenregie haben, dabei waren die doch einmal „Visitenkarten für Städte und Gemeinden, Kathedralen des Fortschritts, Meilensteine der Stadtentwicklung und selbstbewusste Statements kleinerer Orte für die Verbundenheit mit der Welt.“ Entsprechend groß ist die Fangemeinde, die sich für die Schicksale der einst so solide ausstaffierten Bauwerke interessiert und begierig auf jede Nachricht von Rettungsinitiativen und kreativen Neunutzungen wartet.
Dieser Erwartung wird das vorliegende Buch leider kaum gerecht. Es ist Resultat einer Dissertation an der Bauhaus-Universität Weimar, deren Autorin sich ansonsten mit „Rurbanismus“ beschäftigt, also der wachsenden Verquickung von städtischen und ländlichen Existenzweisen. Auch sie hadert mit der Trostlosigkeit der ausrangierten Bahnhöfe, beginnt ihre Suche nach Auswegen aus der Misere aber erst einmal mit Strukturanalyse. Das macht sie mit Akribie und Belesenheit, holt sich Anregungen etwa bei Henri Lefebvre (Theorie der Raumproduktion), Ellinor Ostrom (zum Thema Allmende) oder Lucius Burckhardt (Bauwerke als Zeichen und Bedeutung), um nur drei der Bekannteren zu nennen. Leider führen solche Lektüren dann zu wenig mitreißenden Sätzen: „Indem die materiellen und sozio-kulturellen Potenziale der Gebäude und ihrer infrastrukturellen Anbindungen als Zusammengehörendes Beachtung finden, kann das System aus Landbahnhöfen und Schieneninfrastruktur eine wichtige Ressource für die konzeptionelle und entwerferische Weiterentwicklung strukturschwacher Regionen darstellen, die darauf abzielt, Möglichkeitsräume sichtbar und vorstellbar zu machen, aus denen nachhaltige Raumentwicklungen hervorgehen können.“ Ratschläge, wie dem Übel praktisch abzuhelfen wäre, sollten irgendwie anders klingen.
Als konkreter Anwendungsfall für die Untersuchungen wurde die „Pfefferminzbahn“ gewählt, ein von Weimar leicht erreichbarer, ansonsten weithin unbekannter Schienenstrang quer durchs Thüringer Becken. Der war als Transportweg immer massiv vom Wohl und Wehe der lokalen Agrarproduktion abhängig, weshalb die dazugehörigen Haltestellen nicht einfach zwecks Einsparung stillgelegt wurden, sondern als Gesamtstrecke von der Bedarfsliste verschwanden – ein ökonomisch bedingter Unterschied zu den tausenden Bahnhofsleichen an weiterhin normal frequentierten Zugstrecken, der in der Analyse allerdings keine Erwähnung findet.
Schwerer als solche Unschärfe wiegt jedoch eine Entscheidung gleich zu Beginn der Untersuchung: Analysiert und kommentiert wird hier alles ohne jeden Blick über den nationalen Tellerrand hinaus. Dabei folgt die Verrottung deutscher Bahnhofskultur ja keinem Naturgesetz, nicht einmal unverrückbar ökonomischen Zwängen, was eben ein Blick in unsere sämtlichen Nachbarländer erweisen würde. Dort ist Bahnverkehr nach wie vor Teil öffentlicher Daseinsvorsorge und daher purem Renditekalkül entzogen – was sich deutlich günstig auf die gesamte Verkehrsstruktur in diesen Ländern auswirkt.
Nun kommt Gesellschaft in dem Buch durchaus vor – aber nur als Schadensbegrenzung. Kluge Kommunen, tapfere Vereine oder private Enthusiasten nehmen sich immer häufiger der liegengelassenen Immobilien an und versuchen, diese per Umnutzung zu reaktivieren, als „Ressourcen rurbaner Netzraumproduktion“. Doch nirgends ein Hinweis, dass der marode Zustand der Landbahnhöfe ganz wesentlich neoliberaler Entstaatlichung geschuldet ist: Während Politik, Regionalverbände und große Planungsinstitute verzweifelt die volatilen Beziehungen zwischen Metropolen und Peripherien neu auszutarieren suchen, fabriziert die Deutsche Bahn mit ihrer Streckenpolitik eigene raumplanerische Hierarchien, in denen unterschieden wird zwischen Räumen, die es wert sind, mit Mobilität versorgt zu werden, und solchen, die es nicht mehr wert sind. Was das für die abgehängten Landstriche bedeutet, zumal angesichts drohender sozialer Spaltungstendenzen, füllt die Nachrichtenspalten ja nicht erst seit kurzem. Dagegen können akademische Systemanalysen und Netzwerkschemata wenig ausrichten. In direkter Umkehrung von Margaret Thatchers berüchtigtem Dogma gilt hier die einfache Feststellung: „It’s the society, stupid!“
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