New West
500 wertvolle Leinen-Postkarten visualisieren die Entwicklung des Amerikanischen Westens
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
New West
500 wertvolle Leinen-Postkarten visualisieren die Entwicklung des Amerikanischen Westens
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Ein einzelnes Bild war der Startpunkt dieser Recherche: „Vista of San Francisco and bay, from Twin Peaks Blvd.“, ist die 1934 produzierte Postkarte tituliert, die der Architekt Wolfgang Wagener und die Künstlerin Leslie Erganian im Frühjahr 2014 auf einem Flohmarkt im kalifornischen Palo Alto in die Finger fiel. Die Faszination von dem 80 Jahre alten, leicht artifiziell wirkenden Blick über die Metropole ließ sie die Ansicht genauer betrachten, und die beiden stellten fest, dass so ziemlich alle relevanten Triebkräfte des damaligen Fortschritts auf dieser Stadtvedute ihre Spuren hinterlassen haben: die Kraft der Dampfmaschinen, die Stahlproduktion, das Öl und die beginnende Informationstechnik. Mit anderen Worten: die Industrialisierung, die Motorisierung, die Vernetzung, die moderne Architektur und die von all dem ermöglichte Stadt des 20. Jahrhunderts. Mit Blick auf San Francisco und Kalifornien sogar die Faktoren, die die Entstehung dieser Stadt und überhaupt die Entwicklung des US-amerikanischen Westens erst ermöglicht haben.
Die Geschichte der Vereinigten Staaten westlich des 100. Meridians, von einer rauen, trockenen Wildnis, wie sie sich noch um 1800 dem Auge der Siedler und Abenteurer darbot, zum Inkubator des globalen technischen Fortschritts 200 Jahre später, lassen Wagener und Erganian in ihrem Buch „New West“ Revue passieren, erzählt mit Blick auf die Aspekte Landschaft, Infrastruktur, Architektur und Entertainment. Ausgehend von besagtem Flohmarktfund entstand eine Sammlung von 500 Postkarten der frühen 30er bis späten 50er Jahre, die mit ihren bildlichen Darstellungen und den rückseitig aufgedruckten Texten jene Epoche drängender Entwicklung auferstehen lässt. Dieses inzwischen von der Digitalisierung überholte Medium, mit dem sich wie in einer Art Vorstufe heutiger Social Media-Kanäle Bilder und Texte mit Freunden und Verwandten teilen ließen, präsentiert sich in dem opulenten, querformatigen Band mit einer ganz spezifischen, homogenen Ästhetik: Die Sammlung der Autoren konzentriert sich nämlich auf sogenannte Leinen-Postkarten, die der Chicagoer Verleger Curt Teich 1931 entwickelt hatte. Von Schwarz-Weiß-Fotos ausgehend, erhielten diese bald in den ganzen USA populären Darstellungen von einzelnen technischen Innovationen als auch von gewaltigen staatlichen Bauprojekten wie Staudämmen und Highways, von Naturschönheiten, wie sie in den Nationalparks zu finden waren, bis zu den himmelstürmenden Downtowns und uferlos sich dehnenden neuen Suburbs der weißen Mittelschicht ihre besondere Erscheinung durch den Druck auf Karton mit hohem Stoffanteil, ein Bildträger, der eine besonders hohe Farbsättigung erlaubt und zugleich eine gewisse Stilisierung der Fotografie erfordert – die Verwandlung einer herkömmlichen, bei Tag von einem Fotografen erstellten Schwarz-weiß-Aufnahme in eine nächtliche Leinen-Postkartenszenerie zeigen die Autoren anhand eines Beispiels am Ende des Buchs.
Wagener und Erganian zeigen zu jedem Thema eine beeindruckende Vielzahl von Motiven, teilweise nur winzig klein wiedergegeben, teilweise seitengroß, so dass trotz des einheitlichen Formats der Postkarten beim Leser keine Ermüdungserscheinungen auftreten. So stark ist der Sog dieses Trips in eine andere Zeit, mit jenem vom technischen Fortschritt inzwischen selbst überholten Vehikel, dass ich das Buch in einem Rutsch gelesen habe an einem regnerischen Sonntag: eine Reise auf der Couch an die Quelle jenes Stroms, der die Menschheit in eine ungewisse Zukunft spült.
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