Obacht an der Wäschespinne!
Die Siedlung als Element des Städtebaus
Text: Kleine, Pia, Berlin
Obacht an der Wäschespinne!
Die Siedlung als Element des Städtebaus
Text: Kleine, Pia, Berlin
Welche Relevanz die Ansichtskarte im digitalen Zeitalter noch hat, ist vermutlich individuelle Ansichtssache. Beobachtbar sind neuerweckte Sammelleidenschaften und künstlerische Darstellungsformen beispielsweise von „Plattenbauten“. Doch ihre besondere Bedeutung als historische Quelle des Städtebaus zeigt Bauwelt-Redakteur Ulrich Brinkmann mit „Obacht an der Wäschespinne!“ einmal mehr – das Buch ist nach der Betrachtung von Fußgängerzonen (Bauwelt 6.2020) und Straßen (Bauwelt 25.2023) der letzte Band seiner Trilogie zum Städtebau in Bundesrepublik und DDR, gespiegelt in dem einst populären Medium.
Ausgehend von persönlichen Erinnerungen an das eigene Aufwachsen rückt der Autor Siedlungen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neuerbaut wurden, in den Mittelpunkt. Die visuell ansprechende Darstellung des umfangreichen Ansichtskartenbestandes wechselt sich mit erklärenden Ausführungen zu den jeweiligen Phasen des Siedlungsbaus und Interpretationen der zeitgenössischen Ansichtskarten ab. Dabei eröffnet der Band eine Breite von Themen des Siedlungsbaus: Eine Besonderheit liegt in der Zusammenschau der beiden ehemaligen deutschen Staaten und ihrer Siedlungsprojekte. Zeitliche Abfolgen (beispielsweise vom Zeilenbau zum Punkthochhaus) und Trends des Bauens werden ausgeführt, dabei sind die Leitbilder der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“ oder „Urbanität durch Dichte“ visuell in den Ansichtskarten nachvollziehbar und textlich untermauert. Städtebauliche Prestigeprojekte wie Eisenhüttenstadt oder die Internationale Bauausstellung im Berliner Hansaviertel werden gleichrangig neben „gewöhnlichen“ Bauten beispielsweise in den neuentstandenen Vertriebenenstädten behandelt. Auch die jeweiligen Ausschnitte der Siedlungen auf den Ansichtskarten gliedern den Band. Neben weitläufigen Luftaufnahmen, die von oben die Größe und Struktur solcher Siedlungen widerspiegeln, werden Straßenzüge oder Häuserreihen meist in sauberer Anordnung gezeigt. Die kleinsten Ausschnitte fokussieren auf einzelne Räume der Siedlungen wie Spielplätze oder Einkaufszentren. Schlaglichter werden auf die Städte Eisenhüttenstadt, Wolfsburg oder Halle-Neustadt geworfen.
Mit den historischen Ansichtskarten zeigt „Obacht an der Wäschespinne!“ einem allgemein interessierten Publikum, Stadtplanerinnen, Architekten, Denkmalpflegern oder Historikerinnen städtebauliche lange Linien, Traditionen, aber auch Veränderungen und Brüche in der Siedlungsgestaltung. Zwischen den beiden deutschen Staaten können trotz unterschiedlicher institutioneller oder politischer Organisation des Städtebaus immer wieder Ähnlichkeiten in der Umsetzung ausgemacht werden.
Spannend an dem Band ist, dass Brinkmann die Ansichtskarten nicht als visuelles Begleitmaterial einsetzt. Vielmehr ergründet er die Geschichte der Inszenierung jener Siedlungen und ihrer Bauten, indem er die Ansichtskarten einbindet und analysiert. Die abgebildeten Siedlungen wirken oftmals auf den ersten Blick leer und nicht alltäglich, sondern in einer Art städtebaulichem Idealzustand mit akkuratem Grün oder viel Platz für den ruhenden Verkehr. Es werden die städtebaulichen neuen Errungenschaften präsentiert, und der planerische Ausruf der „Städte der Zukunft“ schimmert durch. Doch ein zweiter Blick auf die Karten und auf den Text offenbart Andeutungen des alltäglichen Umgangs mit der gebauten Umwelt. Nach dem Lesen des Bandes ist das Interesse geweckt, historische Ansichtskarten mit städtebaulichen Motiven selbst in die Hand zu nehmen, sie umzudrehen und zu lesen, ob und wie die Absender jener Karten ihre Umgebung selbst beschrieben und wahrnahmen.
Die Beschäftigung des Bandes mit Karten ist zudem ein Gewinn, weil sie von Räumen zeugen, die gegenwärtig in dieser Art oftmals nichts mehr vorzufinden sind. Es wurde saniert, verändert, angepasst oder sogar abgerissen, und es stellt sich die Frage, ob auch diese Veränderungen in Ansichtskarten dokumentiert wurden.
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