Unless. The Seagram Building Construction Ecology
Ikone, akribisch seziert
Text: Sturm, Hanna, Leipzig
Unless. The Seagram Building Construction Ecology
Ikone, akribisch seziert
Text: Sturm, Hanna, Leipzig
Bernsteinfarbene Scheiben, unterteilt von bronzenen Fassadenelementen. Das Raster auf dem Umschlag wirkt wie ein optischer Code, den das geschulte Auge binnen weniger Sekunden entschlüsselt: das Seagram Building, Park Avenue, New York City, Architekturikone der 50er Jahre von Ludwig Mies van der Rohe. Das Auge ist zufrieden mit sich, wähnt sich in professioneller Sicherheit, da fällt sein Blick auf den Titel:
„UNLESS“ …
„UNLESS“ …
Nach dem Aufklappen des Buchdeckels, ein Vorspann: das Hochhaus, von innen leuchtend in der Abenddämmerung. Ein unter Schutt begrabenes Haus. Arbeiterhände in Gummihandschuhen, die mit getränkten Tüchern über Metallträger wischen. Bilder und Wörter schwanken zwischen einer Trophäe (A trophy) und Zerfall (Atrophy). Diese erste Irritation, hervorgerufen durch den Widerspruch zwischen äußerer Erscheinung und Inhalt, ist ein zentrales Thema des vorliegenden Buchs.
Die Analyse des Autors Kiel Moe lässt sich in zwei Hälften teilen. Im ersten Teil entwickelt er eine auf die Welt bezogene Architekturbetrachtung. Dieser Modus der Beschreibung gibt Einblicke in die energetischen, wirtschaftlichen und politischen Dimensionen des Seagram Build-ing. Wer, wie ich, kein Grundlagenwissen im Bereich Systemtheorie besitzt, dem wird die Lektüre der englischsprachigen Ausführungen einiges abverlangen. Neben der Komplexität des Themas spielt Moe an vielen Stellen mit Sprache, um Sachverhalte deutlich zu machen. Beispielsweise untersucht er das Wort „building“, welches im Englischen sowohl das Gebäude als auch den Prozess des Bauens beschreibt. Moe zufolge lässt sich dieser Vorgang nicht von der entstehenden Architektur trennen. Architektur verkörpere eine Idee und gehe durch diese Körperlichkeit immer über die Idee hinaus. Eine Architektur um ihrer Selbst willen im Miesʼ-schen Sinne verkenne das Spannungsfeld aus gesellschaftlichen, politischen und umwelttechnischen Prozessen, in dem sie sich befinde. Diese Prozesse müssten zu einem wesent-lichen Bestandteil des Architekturdenkens, der Lehre und der Praxis werden. Nur so seien Architektinnen und Architekten in der Lage, zentrale Themen des Jahrhunderts, wie den Klimawandel und die soziale Spaltung der Gesellschaft, zu adressieren.
Anschaulich wird dieser Ansatz im zweiten Teil des Buches, wo Moe die Produktion der für das Seagram Building verwendeten Baustoffe nachverfolgt. Was zu einem Gebäude gefügt selbstverständlich erscheint, ist ein Produkt aus über Jahrmillionen gewachsenen Rohstoffen und aufwändigen industriellen Fertigungsprozessen. Auch hier trügt der Schein. So bestehen die bronzenen Fassadenelemente des Hochhauses eigentlich aus Messing. Dieses Material altert nicht auf natürlichem Wege, weshalb die Träger mit einer Oberfläche von 153.000 Quadratmetern jährlich per Hand geölt werden müssen, um die dunkle Färbung zu bewahren.
Mit Beispielen wie diesem illustriert Moe die Doppeldeutigkeit des von Mies van der Rohe geprägten Ausspruchs „Less is more“. So bedeutet „weniger“ im formalen Sinne oft ein „Mehr“ an Arbeit und Ressourcen. Im aktuellen Diskurs über Lebenszyklen und CO2-Bilanzen macht diese akribische Sezierung der Architekturikone deutlich, was es bedeutet, ein Gebäude als physischen Gegenstand zu betrachten. Dynamiken von Materialien, Arbeitskraft, sozialen Beziehungen, industriellen Entwicklungen, Transportinfrastrukturen und Handelsabkommen bilden einen Kosmos, der Moe zufolge innerhalb des Bauens und außerhalb der Architektur liegt.
UNLESS…Lassen sich Architektinnen und Architekten auf eine tiefgehende Analyse der hinter dem Bau stehenden Prozesse ein, können die gewonnenen Erkenntnisse Einfluss auf Materialität, Konstruktionsweise und Organisation eines Gebäudes nehmen. Liegt nicht gerade darin die Möglichkeit einer neuen Form?
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