Der Wettbewerb Groß-Berlin 1910
Die Entstehung einer modernen Disziplin Städtebau
Text: Kiem, Karl, Siegen
Der Wettbewerb Groß-Berlin 1910
Die Entstehung einer modernen Disziplin Städtebau
Text: Kiem, Karl, Siegen
Im frühen 20. Jahrhundert war der Hobrechtplan vor allem im Westen Berlins längst an seine Grenzen gekommen. Darüber hinaus legten neue Auffassungen in der architektonischen und städtebaulichen Gestaltung, die Entwicklung des Verkehrswesens sowie veränderte Auffassungen zur Wohnungsversorgung die Suche nach einer neuen Konzeption für die Ausdehnung der Großstadt nahe. Daraus resultierte der Wettbewerb Groß-Berlin von 1910. Aber auf Grund der bald darauf einsetzenden politischen und ökonomischen Probleme, angefangenmit dem Ersten Weltkrieg, ist von den Ergebnissen dieses Wettbewerbs baulich-räumlich relativ wenig umgesetzt worden.
Mit dem gegenwärtigen Wachstum der Stadt Berlin kommt diesem Wettbewerb heute wie-der eine gewisse Aufmerksamkeit zu. Deshalb ist es sehr erfreulich, dass zu diesem Thema nun eine monographische Untersuchung vorliegt. Diese stammt von dem jetzigen Professor für Denkmalpflege an der FH Potsdam, Markus Tubbesing, der an der ETH Zürich Architektur studiert hat und danach erst bei Hans Kollhoff und später bei Vittorio Magnago Lampugnani ebenfalls an der ETH Zürich viele Jahre als Wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war. Das Buch entstand als Dissertation, die Promotion erfolgte an der Universität Bern im Fachgebiet Kunstgeschichte. Die Leistung hat also einen interdisziplinären Hintergrund.
Neben dem Kern, der die Geschichte des Wettbewerbs und die Beiträge im Einzelnen behandelt, hat das Buch mehrere vorangestellte Abschnitte: zur Entstehung der Einheitsgemeinde Groß-Berlin, zu den Buchpublikationen zum Städtebau im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, zu den maßgeblichen großen Stadterweiterungen München (1891–93), Wien (1892–94), Washington (1902) und Paris (1897/98 ff.) sowie zur zunehmenden Differenzierung der Disziplin Städtebau durch Einbezug von „Hilfswissenschaften“. Ferner findet sich am Schluss der Arbeit ein Abschnitt, der die Wirkungen des Wettbewerbs Groß-Berlin von 1910 nicht nur für die darauffolgenden Jahre skizziert, sondern selbst noch in zukünftige Planungen einfließen lassen möchte. Leider fehlt eine Einführung, so dass man zur Fragestellung, zum Erkenntnisinteresse und zur Forschungsperspektive keine nennenswerten Informationen erhält.
Das Buch macht von außen einen guten Eindruck. Zu diesem trägt in erster Linie das große Format (A4) und das hohe Gewicht im physikalischen Sinne bei. An sich ist ein großes Format dem Gegenstand auch angemessen, denn die gezeigten Stadtpläne haben im Original eine Größe bis zu über zwei auf zwei Meter. Allerdings sind die Abbildungen in dem Buch leider oft auf etwa die Größe von Etiketten für Einmachgläser geschrumpft, so dass die Pläne – Quellen, die man gerne mit studiert hätte – vielfach sehr schwer oder überhaupt nicht lesbar sind. Und Ceterum censeo: Die Entsorgung der Fußno-ten hinten im Anhang und deren Verschachtelung durch die kapitelweise Neunummerierung macht die Lektüre leider immer wieder zur Geduldsprobe.
Inhaltlich zeigt sich der Autor als ein guter Kenner seiner Materie. Einer Kritik bedarf das Aneinanderfügen von Buchtiteln mit jeweils etwa zwei Sätzen Kommentar und von einzelnen städtebaulichen Projekten ohne übergreifende Fragestellung. Das ist für den theoretischen Teil einer Arbeit geisteswissenschaftlicher Provenienz etwas unterkomplex. Zudem vermisst man in diesem Zusammenhang eine konsistente und definierte Begrifflichkeit. Auf der anderen Seite ist das Potential von zeichnerischen Analysen durch einen im Entwerfen und Konstruieren erfahrenen Architekten nicht im Ansatz ausgeschöpft. Denn die wenigen Umzeichnungen von originalen Plänen durch den Verfasser lassen gegenüber den Originalen kaum tiefere und damit neue Einsichten zu. Warum die Darstellung der Berliner Stadtbaugeschichte erst mit der Schinkelzeit beginnt, erschließt sich – nebenbei bemerkt – auch nicht, betrifft der Wettbewerb Gross-Berlin doch die gesamte Stadt einschließlich der mittelalterlichen Doppelstadt bis hin zu den Stadterweiterungen des Barock.
Der den größten Teil des Buches ausmachende Kern der Arbeit mit der Untersuchung der einzelnen Wettbewerbsbeiträge beeindruckt mit vielen originalen, hauptsächlich farbig angelegten Gesamt- und Detailplänen und darüber hinaus stellenweise sogar noch mit Gemälden. Dies betrifft vor allem die vier mit Preisen und die vier mit Ankäufen bedachten Projekte. Die entsprechenden Originale finden sich heute weitgehend im Architekturmuseum der Technischen Universität Berlin. Die Unterlagen zu den übrigen Projekten wurden nach dem Abschluss des Wettbewerbsverfahrens an die Verfasser zurückgeschickt. Bei der ausführlichen Recherche hinsichtlich des letztgenannten Materials hätte man dem Verfasser vor allem in Bezug auf die Auffindung von zeichnerischen Darstellungen etwas mehr Fortüne gegönnt.
Die Darstellung der einzelnen Projekte folgt der Reihenfolge der Auszeichnung im Wettbewerb. Dieser Abschnitt ist weitgehend in sich schlüssig und gut kontextualisiert. Allerdings fällt es oft schwer, die Ausführungen zur jeweiligen Verkehrsplanung nachzuvollziehen. Dies gilt insbesondere für das Siegerprojekt von Hermann Jansen und die ausschließlich verbal vorgetragene zeitgenössische Kritik an dessen Planung für den Eisenbahnverkehr. Hier wird nicht klar, inwieweit die zeitgenössische Unterstellung von Mängeln tatsächlich berechtigt war oder ob diese durch Eifersucht auf den Gewinner motiviert war und auf seinen integrativen Ansatz mit dem Anspruch des Primats des Architekten zielte, bei dem sich die Verkehrsplaner in die zweite Reihe zurückgesetzt fühlen mussten. Ein überzeugender Vergleich der jeweiligen Verkehrsplanungen fehlt jedenfalls. Dieses Gebiet wäre vielleicht besser separat durch die historischen Verkehrswissenschaften bearbeitet worden.
Es darf davon ausgegangen werden, dass bei der Beurteilung eines städtebaulichen Wettbewerbs zumindest in einer stadtbau- und kunstgeschichtlichen Untersuchung die vergleichende Bewertung der baulich-räumlichen Qualitäten der Entwürfe das vorrangige Ziel sein sollte. Dazu liefert die vorliegende Arbeit allerdings kaum nähere Anhaltspunkte. Die vier Seiten Resümee kreisen hauptsächlich um das Verhältnis von Stadtplanung und „Hilfswissenschaften“ und sind selbst in dieser Hinsicht wenig ergiebig. Zu sich aufdrängenden entwurfsbezogenen Fragestellungen, wie die zu den Straßen- und Platzräumen, Baublöcken, Haustypen, architektonischen Formensprachen, Verhältnissen von Stadtkern, Wohngebieten und Stadtrand etc. findet sich von ein paar allgemeinen Bemerkungen abgesehen nichts. Dies gilt sowohl für die Beiträ-ge des Wettbewerbs Gross-Berlin von 1910 untereinander als auch für andere relevante zeitgenössische städtebauliche Projekte. Dem Verfasser ist dieses Defizit aber nicht unbedingt anzulasten.
Im deutschen – und offensichtlich auch im schweizerischen – Hochschulwesen herrscht auf dem Gebiet der Architektur- und Stadtgeschichte seit Jahren das Dogma der allein selig machenden Interdisziplinarität zwischen Architektur und Kunstgeschichte. In der Theorie könnten damit die manchmal sehr scharfsinnigen verbalen Analysen in den Geisteswissenschaften mit den hin und wieder besonders tief gehenden baulich-räumlichen Analysen von Ingenieurwissenschaftlern zusammengekommen. Ein paar kluge Köpfe haben aber schon früh voraus gesehen, dass Interdisziplinarität in der beschriebenen Form hauptsächlich dazu führt, dass sich die Fächer der Forschungsgegenstände der Nachbardisziplinen bemächtigen würden, ohne über deren ausgefeilte Methodik zu verfügen, was nur zu einer elenden Faktenhuberei führen kann. Immanuel Kant hat auf diesen Zusammenhang schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts hingewiesen: „Es ist nicht Vermehrung, sondern Verunstaltung der Wissenschaften, wenn man ihre Grenzen in einander laufen lässt.“
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