Bauwelt

Banking outside the Box

Der Wirtschaftswissenschaftler Patrick Mardini über die Rolle des Immobiliensektors beim Wiederaufbau des Libanon, die Gründe für den Zusammenbruch der Banken, Korruption und die Erfindung des „Lollar“

Text: Heinich, Nadin, München

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Blick über Beirut nach Norden in Richtung Zentrum. Das öffentliche Netz liefert nur wenige Stunden am Tag Strom, privat betriebene Generatoren helfen, die Lücken zu füllen.
Foto: Sergey Ponomarev

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Banking outside the Box

Der Wirtschaftswissenschaftler Patrick Mardini über die Rolle des Immobiliensektors beim Wiederaufbau des Libanon, die Gründe für den Zusammenbruch der Banken, Korruption und die Erfindung des „Lollar“

Text: Heinich, Nadin, München

Nadin Heinich Was waren vor der Krise die wichtigsten Sektoren der libanesischen Wirtschaft? Das Land produziert kaum Waren...
Patrick Mardini Die Behauptung, der Libanon produziere kaum etwas, halte ich für übertrieben. Wir exportieren kaum Waren, weder in der verarbeitenden Industrie noch in der Landwirtschaft. Der Grund dafür ist das Stromproblem. Ohne Strom laufen keine Maschinen, gibt es keine Bewässerung, keine Kühlung. Im Dienstleistungssektor, vor allem in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Tourismus, war der Libanon vor und nach dem Bürgerkrieg sehr wett-bewerbsfähig. Jedes Jahr kamen viele Touristen, Milliarden von Dollar flossen ins Land.
Dazu hat sich der Libanon stark auf den Bankensektor konzentriert. Geld aus aller Welt anzuziehen, ist an sich nicht schlecht. In einem Staat wie Singapur lebt das ganze Land von Bankdienstleistungen. Negativ war die Korruption unserer Regierung, die sich viel Geld von den Banken geliehen und es nicht entsprechend in den Ausbau der Infrastruktur, in eine gute Strom- und Wasserversorgung, in den Ausbau des Verkehrsnetzes und so weiter investiert, sondern verschwendet hat. Die Probleme sind nicht vom Bankensektor ausgegangen. Die Banken tragen aber einen großen Teil der Verantwortung, weil sie der Regierung zu sehr vertraut haben.
Die Zentralbank hat aber doch ein Schneeballsystem geschaffen, bei dem klar war, dass es irgendwann kollabieren würde.
Die Krise, die wir heute erleben, und die Gründe für den Zusammenbruch der Banken im Jahr 2019 gehen auf das Jahr 2015 zurück, nicht auf die 1990er Jahre. Ab 2015 schwand das Vertrau-en in die Fähigkeit des Staates, seine Schulden zurückzuzahlen. Die Wirtschaft ist nur noch sehr schwach gewachsen. Technisch gesehen begann das Kapital aus dem Land abzuwandern. Ab diesem Zeitpunkt begannen auch die „finanztechnischen Operationen“. Viele Politiker wollen die Schuld auf die 1990er Jahre schieben, damit niemand, der heute im Amt ist, die Verantwortung übernehmen muss.
1990 endete der Bürgerkrieg.
Das ganze Land war zerstört und musste wieder aufgebaut werden. Für diese Zeit müssen wir zwischen dem Bankensektor und der Regierung unterscheiden: Während des Bürgerkriegs verdienten die Milizenführer, die sich gegenseitig bekämpften, viel Geld. Durch Bestechung wurden sie davon überzeugt, den Krieg zu beenden, in die Regierung einzutreten und noch mehr Geld zu verdienen. Jeder dieser Milizenführer wurde Minister – mit einem offenen Budget für sein Ministerium. Wir haben den Frieden mit Korruption erkauft. Das war das Modell der Neunzigerjahre.
Trotz einer korrupten Regierung hat der Bankensektor bis 2015 gut funktioniert. Um Kapital für den Wiederaufbau anzuziehen, waren die Zinsen zwar übermäßig hoch, aber das Wachstum war gut. In den Jahren 2009 und 2010, während der weltweiten Finanzkrise, blieb der Libanon ein stabiler Finanzplatz. Das Problem, die Wurzel allen Übels, war: Ein großer Teil des Kapitals ging an den Staat. Der Wiederaufbau in den Neunzigerjahren hätte durch private Investitionen und nicht durch staatliche Projekte erfolgen müssen.
Was änderte sich 2015?
Zum einen spüren wir immer stärker die Auswirkungen des syrischen Bürgerkriegs. Damit mei-ne ich weniger die Flüchtlinge, die ins Land gekommen sind, sondern die Handelsrouten. Der Libanon betreibt Handel mit der arabischen Welt, indem Waren, die über das Mittelmeer im Hafen von Beirut ankommen, per LKW durch Syrien transportiert werden. Der Krieg in Syrien hat diese Route blockiert und verteuert. Zudem haben sich die Beziehungen zu den Golfstaaten verschlechtert. Die Spannungen zwischen Saudi-Arabien und dem Iran führten dazu, dass viele Investoren aus den Golfstaaten ihr Geld wegen der Präsenz der dem Iran nahestehenden Hisbollah-Miliz nicht in Beirut investierten. Und während international die Finanzmärkte boomten, spürten die Investoren hierzulande, dass die Regierung nicht in der Lage sein würde, ihre Schulden zu bedienen. Das Missmanagement öffentlicher Gelder war offensichtlich. Die Stimmung kippte, Kapital floss ab. Warum Geld im Libanon anlegen, wenn es anderswo bessere, risikoärmere Möglichkeiten gibt?
Die Zentralbank begann mit, wie sie es selbst formulierte, „banking outside the box“.
Ab 2015 begannen die sogenannten finanztechnischen Operationen. Der Zentralbank war bewusst, dass die Regierung nicht in der Lage sein würde, ihre Schulden zurückzuzahlen. Sie versuchte, den Kapitalabfluss umzukehren: Die Banken sollten ihr Geld nicht direkt der Regierung geben, sondern bei der Zentralbank anlegen. Dafür warb sie zum einen mit ihrer Reputation. Riad Salameh, von 1993 bis 2023 Chef der Zentralbank, wurde noch 2009 zum „Zentralbanker des Jahres“ gewählt. Und sie bot überhöhte Zinsen für Einlagen in US-Dollar, höher als in anderen Ländern der Welt (seit den 1990er Jahren war die libanesische Lira mit einem festen Wechselkurs an den Dollar gebunden).
Die Banken lockten ihre Einleger mit hohen Zinsen, legten das Geld dann zu noch höheren Zinsen bei der Zentralbank an und freuten sich über die enormen Gewinne. Die Zentralbank verlieh das Geld an die Regierung, die es, vereinfacht gesagt, wie zuvor verschwendete.
War niemand skeptisch gegenüber diesen „finanztechnischen Operationen“, zumindest diejenigen, die sich professionell mit dem Finanzmarkt beschäftigen?
Es gab skeptische Stimmen, aber sie waren in der Minderheit. Viele wurden von den vorteilhaften Geschäften angezogen. Die Banken spielten mit ihrer Glaubwürdigkeit und der Reputation der Zentralbank: „Wir haben das beste Bankensystem. Wir haben die beste Notenbank der Welt. Selbst während des Krieges hatten wir keine Probleme, Geld auszugeben.“ Die Menschen glaubten das. Zumal ihnen hohe Zinsen geboten wurden.
Nur dieses Mal handelte es sich um ein Schneeballsystem: Die Banken zahlten die hohen Zinsen mit dem geliehenen Geld – wohl wissend, dass sie es nicht zurückzahlen konnten. Damit so ein System funktioniert, müssen immer mehr Menschen sich beteiligen. Die Zinsen stiegen von Jahr zu Jahr. 2019 lagen sie bei 15 Prozent für den Dollar. Inzwischen hatte der Libanon 72 Milliarden Dollar an Verlusten angehäuft: Gut 90 Milliarden Dollar hatten die Banken bei der Zentralbank angelegt. Rund 50 Milliarden davon hatte die Zentralbank der Regierung geliehen, die sie größtenteils verprasste. Rund 20 Milliarden waren Staatsanleihen, mit deren Rückzahlung die Regierung in Verzug geriet. Unruhe machte sich breit.
Wie geschah es, dass alles zusammenbrach?
Ab August 2019 etablierte sich auf dem Schwarzmarkt ein Wechselkurs der libanesischen Lira zum Dollar. Ausgehend vom offiziellen Kurs von 1500 Lira für einen Dollar, wurden schnell 1550, 1600, 1700, 1800, 1900 daraus. Der Kurs stieg immer weiter. Die Zentralbank wiegelte ab, aber die Krise war unübersehbar. Im Oktober kam es in Beirut und anderen Städten des Landes zu massiven Protesten gegen Korruption, für faire Steuer- und Finanzverfahren, für ein Ende der konfessionellen Quoten und für eine moderne Politik. Im Zuge der Proteste wurden die Banken für zwei Wochen geschlossen. Als sie am 1. November 2019 wieder öffneten, hatte niemand mehr Vertrauen. Es kam zu einem massenhaften Bank-Run.
Und dann wurde der „Lollar“ erfunden
2019 begannen die Banken mit der Einführung von Kapitalverkehrskontrollen. Diese wurden nach und nach immer strenger. Zunächst musste man begründen, warum man zum Beispiel im Ausland einen größeren Kauf tätigen, etwa eine Wohnung kaufen wollte. Heute darf man nur noch 400 Dollar pro Monat von einem Bankkonto abheben. Über diesen Betrag hinaus kann man sich das Geld nur in libanesischer Lira auszahlen lassen, zu einem Kurs von 15.000 Lira pro Dollar, etwa 80 Prozent unter dem Schwarzmarktkurs. Das bedeutet massive Verluste. Was ist dieses Geld wert, das unter Kapitalverkehrskontrollen steht? Würden Sie mir heute eine Wohnung gegen einen Scheck über 500.000 Dollar verkaufen? Nein, denn Sie können dieses Geld niemals abheben. Sie wissen nicht einmal, wie lange Sie 400 Dollar im Monat abheben können. Vielleicht ist auch das irgendwann nicht mehr möglich.
Ein Dollar auf der Bank ist also weniger wert als ein Dollar in bar. Dafür hat man einen Namen erfunden, den Lollar. Der Wert dieses Lollars korreliert mit der Wahrscheinlichkeit, das Geld von der Bank zurückzubekommen. Zu Beginn der Krise, als wir etwa 35 Milliarden Dollar an Devisenreserven hatten, lag der Wert bei 70 Prozent eines echten Dollars. Aber je mehr die Regierung ihre Devisenreserven verschleudert hat, desto geringer wurde der Wert dieser Dollar. Heute liegen die Devisenreserven bei etwa sieben Milliarden. Damit kann man wahrscheinlich nicht einmal 10 Prozent der Einlagen auszahlen. Der Wert des Lollars beträgt nur noch 10 Prozent des Dollars. Das heißt: Viele Menschen haben einen großen Teil ihrer Ersparnisse verloren.
Wie sind im Libanon Immobilienbranche und Bankensektor miteinander verbunden?
Die Immobilienbranche ist besonders, weil sie sehr lokal ist. Es macht keinen Sinn, ein Haus in den USA zu kaufen, wenn man im Libanon leben möchten. Der Immobiliensektor hat daher sehr von dem Kapital profitiert hat, das in den Libanon geflossen ist, vor allem vor der Finanzkrise.
In den Neunzigerjahren bot der Wiederaufbau des Libanon enorme Investitionsmöglichkeiten. Das Land sollte ein Tourismus- und Finanzzentrum werden. Der Bausektor boomte mit der Entwicklung von Immobilien, großen Infrastrukturprojekten, dem Wiederaufbau des Flughafens von Beirut, des Hafens etc. Es floss sehr viel Geld, unter anderem aus den Golfstaaten. Hinzu kam, dass der damalige Ministerpräsident Rafiq al-Hariri aus der Baubranche stammte. Das Zentrum von Beirut wurde zu einem Ort des Luxus – wohlhabende Menschen aus den Golfstaaten, aus Saudi-Arabien, Kuwait, Katar oder Bahrain, sollten angezogen werden. Sie sollten im Libanon Immobilien kaufen, hier sommers wie winters shoppen, sich amüsieren und ihr Geld anlegen. Anstelle der traditionellen Märkte der Vorkriegszeit entstanden teure Einkaufstempel für die großen, internationalen Luxusmarken, dazu elegante Restaurants, Cafés, exklusive Nachtclubs. Internationale Stararchitekten wurden engagiert, um das neue Image in das Stadtbild zu übersetzen.
Dieser Wiederaufbau war die Vision Hariris. Er wollte es besser machen als zuvor, Reichtum anziehen, neuen Wohlstand schaffen. Und es funktionierte. Hariri konnte Menschen begeistern, seine Vision zu verwirklichen. Doch 2005 wurde er ermordet.
Was denken Sie über Hariris Vermächtnis für Beirut, für den Libanon?
Hariri war derjenige, der die Milizenführer mit Korruption lockte und dafür Frieden bekommen hat. Ist das gut oder schlecht? Im Grunde war seine Vision großartig. Wir brauchten ihn, um den Wiederaufbau schnell voranzutreiben. Das Problem war, dass nur er sie umsetzen konn-
te. Mit seinem Tod ist sie zusammengebrochen.
Wie entwickelte sich das Baugeschehen weiter?
Der Höhepunkt des Immobilienbooms lag zwischen 2011 und 2015, danach verlangsamte sich der Immobilienmarkt. Aufgrund des Kapitalabflusses und weil die Zentralbank bessere Renditen anbot, vergaben die Banken weniger Kredite. Die Preise fielen zwar nicht, aber der Leerstand nahm zu. 2019 kam die Bautätigkeit zum Erliegen. Immer mehr Immobilien standen leer. Zu Beginn der Krise hatten viele Projektentwickler Kredite bei den Banken. Gleichzeitig hatten viele Menschen Ersparnisse, die sie mit der Einführung der Kapitalverkehrskontrollen nur sehr eingeschränkt abheben konnten. Mit dem eingefrorenen Geld konnten sie aber Wohnungen kaufen. Manche kauften mehr, als sie brauchten. Das erste Jahr der Krise war für viele sehr interessant. Projektentwickler konnten ihren gesamten Wohnungsbestand verkaufen und waren frei von Krediten. Wenn jetzt aber diejenigen, die über Bedarf gekauft haben, diese Wohnungen weiterverkaufen wollen, finden sie kaum noch Käufer. Das Problem ist nicht gelöst.
Patrick Mardini ist CEO des Lebanese Institute for Market Studies (LIMS). Er arbeitet dort mit einem Expertenteam zusammen, um Wirtschaftsreformen speziell für den Libanon zu entwerfen, das Bewusstsein für ihre Bedeutung zu schärfen und sich für ihre Umsetzung einzusetzen. Es geht dabei um Themen wie Subventionen, Bankenkrise, Hyperinflation, Finanzpolitik, Elektrizität, Wettbewerb und Geschäftsabwicklung. Zuvor war Mardini bei der Pariser Investmentverwaltungsgesellschaft Modèles et Stratégies für Investor Relations zuständig und hatte eine Professur für Wirtschaft und Finanzen an der Universität Balamand inne.
Fakten
Architekten Mardini, Patrick, Beirut
aus Bauwelt 5.2024
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