Bauwelt

Die Krise hätte uns lehren müssen, dass Land nicht nur zur Spekulation da ist

Die Architektin Hala Younes über das Planen und Bauen in einem weitgehend deregulierten Umfeld, den Ausverkauf Beiruts und die Rolle, die international renommierte Architekturbüros dabei spielen

Text: Heinich, Nadin, München

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Hala Younes ist Architektin und Geografin. Seit 1995 führt sie ihr eigenes Architekturbüro in Beirut.
Foto: Sergey Ponomarev

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Hala Younes ist Architektin und Geografin. Seit 1995 führt sie ihr eigenes Architekturbüro in Beirut.

Foto: Sergey Ponomarev


Die Krise hätte uns lehren müssen, dass Land nicht nur zur Spekulation da ist

Die Architektin Hala Younes über das Planen und Bauen in einem weitgehend deregulierten Umfeld, den Ausverkauf Beiruts und die Rolle, die international renommierte Architekturbüros dabei spielen

Text: Heinich, Nadin, München

Nadin Heinich Seit 2019 ist der libanesische Staat bankrott. Die öffentliche Verwaltung arbeitet nur noch eingeschränkt. Welche Auswirkungen hat das auf Ihre Arbeit als Architektin?
Hala Younes Mit der Krise hat die nationale Währung inzwischen 90 Prozent ihres Wertes verloren. Während die Gehälter in der Privatwirtschaft seit 2019 in Dollar bezahlt werden, blieb es im öffentlichen Sektor bei der Bezahlung in libanesischer Lira, die Gehälter wurden kaum angepasst. Angestellte im öffentlichen Dienst können von ihrem Gehalt nicht leben. Die meisten Verwaltungen tolerieren daher, dass ihre Mitarbeiter nur zwei Tage pro Woche dort arbeiten und die restliche Zeit einer anderen Beschäftigung nachgehen. Regelmäßig kommt es zudem zu Streiks. Dann funktioniert gar nichts mehr.
Es ist kaum noch möglich, Baugenehmigungen zu beantragen. Denn dafür muss man eine Reihe von Dokumenten bei den örtlichen Behörden einholen, wie zum Beispiel den Katastereintrag des Grundstücks.
Wie war das vor der Krise?
Natürlich gibt es auch bei uns eine Bauordnung. Zunächst wird ein Projekt zur Prüfung bei der Ingenieurkammer vorgelegt. Sie erhebt eine Gebühr entsprechend der geplanten Zahl der Qua-dratmeter. Mit diesem Geld finanziert sie die Krankenversicherung und die Rente aller Ingenieure. Anschließend prüft die im jeweiligen Gebiet zuständige Direktion für Städtebau das Bauvorhaben. Sie erhebt ebenfalls eine Gebühr, dieses Mal für die Gemeinde. Danach kann der Bau beginnen. Stimmt ein Gebäude mit der eingereichten Genehmigung überein, erhält man nach Fertigstellung eine sogenannte Konformitätsbescheinigung. Man kann das Gebäude nutzen, öffentliche Dienstleistungen wie Wasser und Strom in Anspruch nehmen. Nur funktionieren diese Dinge nicht mehr, diese letzte Bescheinigung ist nicht mehr so wichtig …
Wie kommt man dann an Strom und Wasser?
Auf dem Land gibt es zurzeit keine öffentliche Stromversorgung. Früher hatten Baustellen einen provisorischen Anschluss; der wurde einfach weitergenutzt. Und weil es viele Brunnen und andere private Wasserquellen gibt, ist in vielen Gegenden ein öffentlicher Wasseranschluss nicht notwendig. Auf dem Land finden auch kaum Kontrollen statt. Anders in den großen Städten. Doch wer sich dort nicht an die Auf-
lagen der erteilten Genehmigung hält, zahlt einfach eine Gebühr für die zusätzlichen Quadratmeter – oft dreimal mehr, als ursprünglich genehmigt – und kann bauen, was er möchte.
Die Gesetze dienen nicht dem Wohl der Allgemeinheit, sondern ermöglichen denjenigen, die Genehmigungen erteilen, von ihrer Macht zu profitieren. Die gesamte Regulierung des Bauens ist tatsächlich ein System der Ausnahmen. In Wirklichkeit tut niemand das, was er laut Gesetz tun sollte. Es gibt immer die Möglichkeit, Ausnahmen zu beantragen und für diese Ausnahmen zu bezahlen.
In welchem Umfang gibt es im ­Libanon Stadtplanung?
Laut unserer Verfassung ist grundsätzlich jedes Grundstück bebaubar. Es sei denn, es gibt einen Bebauungsplan, der das Bauen verbietet oder einschränkt. Etwa 40 Prozent des Territo-riums unterliegen Regelungen durch Bebauungspläne. Ein großer Teil des Libanon nicht – in diesen Gebieten können bis zu 50 Prozent der Fläche bebaut werden. Das bestehende Regelwerk ist sehr einfach. Es geht vor allem um die maximale Zahl der Quadratmeter, die man bauen darf, immer bezogen auf das Grundstück, nie auf die Stadt. Es gibt auch Vorschriften, die auf den Kontext Bezug nehmen, also Stadtzentrum, ländliche Region, Hanglage und so weiter. Eine architektonische Qualität erzeugen sie nicht.
Der Wert eines Grundstücks definiert sich über die Anzahl der Quadratmeter, die man darauf bauen kann. Diese Eindimensionalität erschwert eine effektive Planung. Sobald eine Behörde verkündet, dass in einem Gebiet aus Gründen des Gemeinwohls, weil dort zum Beispiel ein erhaltenswerter Wald wächst, nicht oder weniger gebaut werden darf, werden alle Eigentümer von Grund und Boden sofort Lobbyarbeit betreiben, um das zu verhindern. Und selbst wenn sie nur eine Genehmigung für eine geringere Quadratmeterzahl erhalten, können sie mehr bauen, weil niemand sie kontrolliert.
Traditionell haben die Libanesen ihr Geld in Land und Immobilien investiert, auch wenn sie es in den letzten Jahren wegen der hohen Zinsen zunehmend bei Banken anlegten. Es war inte-ressant, Land zu kaufen, weil man es in zwei oderdrei Jahren wieder verkaufen konnte und auf den Gewinn keine Steuern zahlen musste.
Ist irgendwo geregelt, dass Projektentwickler, wenn sie eine bestimmte Anzahl von Wohnungen bauen, auch eine Schule, einen Kindergarten oder eine andere Einrichtung für das Gemeinwohl bauen oder zumindest eine Abgabe dafür entrichten müssen?
Die Gesetze beziehen sich nie auf das Quartier oder die Stadt, sondern immer nur auf das Grundstück. Für die Schulen sind der Staat, das Bildungsministerium und die Gemeinden, zuständig. Ein Projektentwickler würde niemals eine Schule bauen oder finanzieren.
Was waren die Hauptgründe für den Bau von Wohnungen in den letzten Jahren? Der tatsächliche Bedarf? Gibt es im Libanon so etwas wie sozialen Wohnungsbau?
In den Sechzigerjahren wurden einige wenige Sozialwohnungen gebaut. Die Versorgung mit Wohnraum regelt hauptsächlich der freie Markt. Ein Teil der Gebäude entstand durch Privatpersonen: Jemand hatte ein Grundstück, dazu einen Kredit von der Bank und errichtete so ein drei- oder viergeschossiges Gebäude. Professionelle Projektentwickler bauten dort, wo sie glaubten, dass sie die Wohnungen würden verkaufen können. Sie setzten einen bestimmten Preis fest und warteten einfach; sie mussten nicht gleich verkaufen. Gebäude konnten jahrelang leer stehen und trotzdem im Wert steigen.
Ist die Mehrheit der Libanesen Mieter oder Eigentümer von Wohnungen?
Vor dem Bürgerkrieg wohnte die Mehrzahl der Menschen zur Miete. Die Wohnungen gehörten nicht dem Staat, sondern überwiegend privaten Eigentümern. Während des Krieges wurden Mieterhöhungen gesetzlich verboten. Das war wichtig zum Schutz der Menschen. Auch nach dem Ende des Bürgerkrieges galten diese „alten Mieten“ zunächst weiter. Die Hausbesitzer waren jedoch immer weniger in der Lage, ihre Gebäude instand zu halten. So wurde schließlich ein Gesetz erlassen, das erlaubte, die Mieten alle drei Jahre anzuheben. Mit wenigen Einschränkungen.
Meiner Meinung nach wäre es fair gewesen, beide Seiten, Mieter und Eigentümer, an den zwischen 1975 und 2000 astronomisch gestiegenen Grundstücks- und Immobilienpreisen zu beteiligen und den Mietern die Möglichkeit zu geben, ihre Wohnung zu einem reduzierten Preis zu kaufen. So jedoch wurde mieten unkalkulierbar. Die Menschen wollten ihre Wohnungen kaufen. Die Zentralbank führte dafür zinslosen Darlehen ein. Diese subventionierten Darlehen kurbelten den Immobilienmarkt zusätzlich an. Die Bauträger wussten: Jeder Angestellte mit einem Minimum an Stabilität konnte eine Wohnung kaufen.
Zunehmend kauften auch Menschen aus der Diaspora Wohnungen. Das war eine gute Geldanlage, der Wert stieg stetig. Viele Wohnungen in den zentralen Bezirken von Beirut wurden spekulativ gebaut – und blieben leer. Beirut ist wie ein Schwamm.
Das heißt: Trotz der hohen Bautätigkeit gab es einen Mangel an bezahlbaren Wohnungen?
Ja, Beirut war teuer. Die Menschen sind aus dem Zentrum weg- und in die Außenbezirke gezogen. Da es kaum öffentlichen Verkehrsmittel gab, nahm der Autoverkehr immer weiter zu. Es gab auch günstige Kredite für Autos.
Wie ist die Situation heute?
Mit der Krise 2019 kam der Immobilienmarkt zum Stillstand. Bereits ab 2017 stellte die Zentralbank die subventionierten Kredite ein, verlangsamte sich der Markt. Mit der Einführung der Kapitalverkehrskontrollen wurde ein großer Teil der Ersparnisse bei libanesischen Banken eingefroren. Aus Dollar wurden „Lollar“, man konnte sie nicht mehr direkt abheben. Zunächst konnte man dieses Geld jedoch noch in Immobilien investieren. Die Banken tauschten, vereinfacht gesprochen, die Kredite, die sie an Projektentwickler vergeben hatten, gegen die Sparguthaben. Diejenigen, die schnell genug reagierten, konnte auf diese Weise Wohnungen kaufen.
Zudem hatten viele Privatleute im Laufe der Jahre Kredite aufgenommen, die sie weiterhin in Lira abbezahlen konnten. Sie profitierten zu Beginn von der Krise, denn mit der schnellen Abwertung der Lira verloren auch diese Kredite ihren Wert. Die Banken, die mit ihren „finanztechnischen Operationen“ zur Krise beigetragen hatten, verloren dabei sehr viel Geld. Aber wer hat dafür wirklich bezahlt? Der Staat, der bankrottging, und die Menschen, die keine Kredite bekamen, weil sie sich keine leisten konnten, die sich nicht einmal ein Bankkonto leisten konnten. Die ärmsten Menschen im Land.
Vor der Krise zog Beirut viele aus der international bekannten Architektenriege an.
Viele Architekten waren auch Bauherren.
Haben die jemals gefragt, woher das Geld stammt, ob das ganze System nachhaltig ist?
Niemand hat gefragt. Die Leute legten ihr Geld zu einem Zinssatz von 13 Prozent an, es war einfach interessant. Dabei war die Qualität der Bauten von Projektentwicklern meist sehr schlecht. Ich habe nie für Bauträger gearbeitet. Man musste ein internationaler Star sein und für seinen Namen bezahlt werden. Nur dann hatte man die Macht, eine gewisse Qualität durchzusetzen.
Viele libanesische Architekten verließen mit der Krise das Land. Wenn sie bleiben, arbeiten sie häufig für die Golfregion. Länder wie Saudi-Arabien boomen. Junge Leute arbeiten manchmal online für internationale Büros oder gehen nach Europa.
Sehen Sie auch positive Auswirkungen der Krise?
Nein. Ein positives Ergebnis wäre gewesen, wenn wir erkannt hätten, dass Land nicht nur zur Spekulation da ist, sondern dass Land produktiv sein muss. Die Krise hat den Mythos zerstört, dass die Bodenpreise im Libanon niemals sinken. Ein wirkliches Umdenken hat dennoch nicht stattgefunden. Viele Menschen sind so viel ärmer geworden – wir hätten anfangen können nachzudenken, ob wir wirklich überall bauen, die weiten Wege zwischen Arbeits- und Wohnort in Kauf nehmen sollten. Wie wir endlich gute öffentliche Verkehrsmittel schaffen. Jedoch sind nicht nur die Banken und die Wirtschaft zusammengebrochen, sondern auch der Staat. Es ist niemand mehr da, der Entscheidungen trifft.
Hala Younes ist Architektin und Geografin. Seit 1995 führt sie ihr eigenes Architekturbüro in Beirut. Nach Lehrtätigkeiten an der École d’Architecture Marne-la-Vallée in Paris und verschiedenen Hochschulen im Libanon unterrichtet sie derzeit an der Lebanese American University. 2018 initiierte sie den ersten libanesischen Pavillon auf der Architekturbiennale in Venedig. Unter dem Titel „The Place that Remains“ setzte die Ausstellung sich kritisch mit der Kommerzialisierung von Land im Libanon auseinander.
Fakten
Architekten Younes, Hala, Beirut
aus Bauwelt 5.2024
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