Es muss uns endlich gelingen, die Vision einer Stadt der kurzen Wege umzusetzen
Architekten und Stadtplaner erhoffen sich eine Menge von der Verkehrswende. Doch was sagen eigentlich die Spezialisten dazu? Ein Gespräch mit dem Verkehrs- und Mobilitätsplaner Johannes Schlaich
Text: Friedrich, Jan, Berlin
Es muss uns endlich gelingen, die Vision einer Stadt der kurzen Wege umzusetzen
Architekten und Stadtplaner erhoffen sich eine Menge von der Verkehrswende. Doch was sagen eigentlich die Spezialisten dazu? Ein Gespräch mit dem Verkehrs- und Mobilitätsplaner Johannes Schlaich
Text: Friedrich, Jan, Berlin
Die Neuverteilung des Straßenraums steht auf der Tagesordnung. Das müsste der Großauftritt der Verkehrsplanung werden. Sind die Verkehrsplaner dafür bereit?
Es gibt folgende historische Ausgangslage: Ewigkeiten saß der Verkehrsplaner in seinem Kämmerchen und hat ein bisschen inkrementell geplant. Hier gibt es ein Problem, der Bürgermeister hat auf dem Weg zur Arbeit zu viel Rot, also passen wir die Ampelschaltung an. Hier gibt es eine Beschwerde, dort ein wenig Bedarf, etwas zu verbessern. Sehr lange Zeit war das nicht besonders spannend. Nun kommen wir in eine Situation, wo es plötzlich sexy ist, über Verkehrsplanung zu reden. Es gibt Organisationen, die sich für die Verkehrswende stark machen, wie changing cities in Berlin. Es gibt Podcasts, in denen Leute stundenlang über Verkehr reden, über Mobilität – was früher undenkbar war.
Und Ihre Disziplin reagiert wie darauf?
Jetzt, wo das Umfeld so weit ist, dass so etwas wie eine echte Verkehrswende möglich ist, müssen wir wegkommen von der Praxis, dass jeder in seinem eigenen System relativ unabhängig vom anderen vor sich hin verbessert – der ÖV-Planer im System des öffentlichen Verkehrs, der IV-Planer im System des Individualverkehrs, inzwischen gibt es auch den einen oder anderen Radverkehrsplaner, der sich das Radverkehrsnetz anschaut. Ich sage meinen Studierenden: Ihr kommt genau zur richtigen Zeit. Ihr könnt jetzt etwas verändern, könnt etwas gestalten.
Wirkt sich das schon konkret in der Lehre aus?
Wir gehen deutlich davon weg, zu stark in einzelnen Verkehrsmitteln zu denken. Im letzten Semester hatten wir z.B. das Thema Flächengerechtigkeit. Es ist wichtig, dass die Studierenden sich Gedanken darüber machen: Wie kann man so etwas wie Flächengerechtigkeit messen, wie kann man objektivieren, welches Verkehrsmittel wie viel wert ist, wie viel Platz bekommen soll? Dass jedes Verkehrsmittel, auch das „böse“ Auto, seine Stärken und Schwächen hat und dass man die vernünftig gegeneinander abwägt – um das Beste aus den Verkehrsmitteln rauszuholen, damit wir weiterhin mobil sein können. Wir gehen bei der Konzeption unserer Module immer mehr hin zu multimodalen Ansätzen nachhaltiger Mobilität. Das bildet sich auch in ganz trivialen Dingen ab: Unsere Fächer heißen nicht mehr Verkehrsplanung, sondern Mobilitätsplanung.
Aus Ihrer Erfahrung: Gibt es denn einen gesellschaftlichen Konsens für die Mobilitätswende?
Wenn in Berlin 100.000 Leute für den Radentscheid unterschreiben, dann gibt es immer noch mehr als drei Millionen, die es nicht gemacht haben. Es sind kleine Teile der Bevölkerung, die das vorantreiben, die zum Teil stark sind in der Kommunikation. Die breite Masse ist still. Die breite Masse der Autofahrer etwa. Und das ist eine große Masse – in Deutschland werden immer noch drei Viertel der Kilometer mit dem Auto zurückgelegt. Doch diese Leute gehen nicht jede Woche auf die Straße und rufen „Wir wollen die Straße für den Pkw retten!“, denn das ist ja der gefühlte Status quo. Wir sind längst nicht so weit, dass wir alle für die Verkehrswende sind. Die Kämpfe um jeden Parkplatz, wenn es dann real wird, zeigen ja, dass das differenzierter betrachtet werden muss. Und da muss die Politik, muss auch die Verkehrsplanung für Ausgewogenheit sorgen.
In Berlin etwa gibt es das Paradoxon, dass zwar mehr Rad gefahren wird, aber auch immer mehr Pkw neu angemeldet werden. Wie sieht das insgesamt für Deutschland aus?
Es gibt zwei klassische Erhebungen Mobilität in Deutschland (MiD) und die Systeme repräsentativer Verkehrserhebungen (SrV), und wenn man sich die, auf Gesamtdeutschland betrachte, anschaut, stellt man fest: Es ist alles seit Jahren ziemlich konstant. Die Anzahl der Wege mit dem Pkw ist in den letzten zwanzig Jahren bei fast 60 Prozent konstant geblieben. Wenn man sich den Gesamttrend anschaut, ist eine Verkehrswende bisher nicht wirklich zu erkennen. Wenn wir uns aber Berlin anschauen, dort können wir gewisse Trends erkennen: Beim Radverkehr gibt es dort eine messbare Veränderung, mit deutlichen Zuwächsen. Zwischen 2013 und 2018 ist er Anteil des Radverkehrs an den zurückgelegten Wegen von 13 auf 18 Prozent gestiegen.
Zurückgelegte Wege bedeutet: Jeder angetretene Weg zählt als einer, egal wie lang er ist?
Genau. Darüber spricht man typischerweise, wenn man den „Modal Split“, die Verkehrsmittelaufteilung, kommuniziert. In Berlin, wo die Wege relativ kurz sind, machen die 50 Prozent zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegten Wege in der Summe immerhin 17 Prozent der zurückgelegten Kilometer aus. Auf ganz Deutschland gesehen, wird ein Drittel der Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt, aber das sind nur sechs Prozent der Kilometer, weil da sehr viele lange Strecken dabei sind. Daran sieht man: Eine wirkliche Verkehrswende erreicht man in Deutschland nicht allein damit, dass man den Radverkehr verdoppelt. Denn dann steigt er von drei auf sechs Prozent der zurückgelegten Kilometer. Da sieht man kaum eine Auswirkung auf der Straße oder auf die CO2-Emissionen.
Ziemlich desillusionierend für Radfans ...
Ich bin ja selbst so ein Radfan, und in Städten hat das Rad auch großes Potenzial aufgrund der kürzeren Wege. Aber deutschlandweit sagen die Zahlen etwas anderes. Umso wichtiger sind solche Erhebungen, um das Mobilitätsverhalten zu verstehen und zu schauen, wo ich die größten Gewinne erzielen kann. Und da können wir eine Menge erreichen, wenn wir versuchen, die Wege selbst zu beeinflussen: Wenn ich zehn Prozent aller Wege einspare, weil ich Videokonferenzen abhalte, statt mich real zu treffen, dann habe ich einen ganz anderen Hebel auf die Pkw-Verkehrsleistung, als wenn ich den Radverkehr um ein paar Prozent steigere. Oder – da kommen wir zur Stadtplanung – wenn ich es schaffe, endlich die Vision der Stadt der kurzen Wege umzusetzen. Wenn die Menschen einen nur noch halb so langen Weg, selbst mit dem Auto, zurücklegen, habe ich enorm viel gewonnen. Aber natürlich brauche ich dann für die kurzen Wege auch wieder gute Netze für den Rad- und Fußverkehr.
Auch wenn die Verkehrswende insgesamt (noch) nicht gesellschaftlicher Konsens ist – der Wunsch, in den Städten den Autoverkehr zu reduzieren, um bessere Aufenthaltsqualitäten zu schaffen, ist stark verbreitet.
Was unsere Gesellschaft umtreibt: Wir müssen Selbstverständlichkeiten der autogerechten Stadt in Frage stellen. Ich denke nicht, dass wir den Pkw verbieten sollten. Das macht die Gesellschaft nicht mit, und die Verkehrswende wird nur funktionieren, wenn wir die Gesellschaft mitnehmen und nicht nur die, die sich ganz vorne und laut engagieren. Aber wir müssen die Prioritäten umdrehen. Indem wir sagen: Es ist nicht mehr Priorität 1, den Pkw zu nutzen. In den Wohngebieten etwa ist der Pkw vielleicht noch zu Gast, er ist geduldet – er hat es aber nicht mehr leicht. Durch einen Mix aus Push-and-Pull-Maßnahmen müssen wir erreichen, dass es einerseits gute Carsharing-Angebote gibt, dass es einen guten ÖV und schöne Radwege gibt, andererseits müssen wir es aber auch unattraktiver machen, den Pkw weiterhin zu besitzen.
Wie lange wird es dauern, bis eine Verkehrswende tatsächlich spürbar und messbar wird?
Wie wähle ich meinen Wohnort? Kaufe ich mir noch einmal einen neuen Pkw? Kaufe ich mir eine ÖV-Jahreskarte? Wähle ich meinen Job nahe an meinem Wohnort? Solche persönlichen Entscheidungen, wie sich meine Mobilität wandelt, verändern eine Menge – das entwickelt sich aber sehr langfristig. Es wird viel länger dauern, als sich das mancher wünscht. Aber es ist gut, dass Leute zum Beispiel proklamieren: „2030 ist Berlin autofrei!“ – weil das in den Köpfen der Menschen etwas macht.
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