Wir verarbeiten und filtern die regionale Architektur und Kultur
Joachim Schares ist für das Frankfurter Büro AS+P seit Jahren in Saudi-Arabien unterwegs. Ein Gespräch über Salmani-Architektur, Maßstäblichkeit und gesellschaftlichen Wandel
Text: Brensing, Christian, Berlin
Wir verarbeiten und filtern die regionale Architektur und Kultur
Joachim Schares ist für das Frankfurter Büro AS+P seit Jahren in Saudi-Arabien unterwegs. Ein Gespräch über Salmani-Architektur, Maßstäblichkeit und gesellschaftlichen Wandel
Text: Brensing, Christian, Berlin
Sie sind seit über zwanzig Jahren für AS+P in Saudi-Arabien aktiv. Wie hat sich das Land in Ihren Augen in dieser Zeit gewandelt?
Wenn ich an meine ersten Besuche im Jahr 2002 zurückdenke, muss ich sagen: Es hat grundlegende Veränderungen gegeben. Zunächst einmal hat sich das gesellschaftliche Leben in den sieben Jahren, seit Mohammed bin Salman Kronprinz ist, völlig verändert. Was früher ein abgeschottetes, fast isoliertes Land war, ist zu einem offenen Land geworden. Es gibt heute zum Beispiel eine Menge Sport- und Kulturveranstaltungen. Bei meinen ersten Besuchen gab es nicht einmal einen Radiosender, Musik im öffentlichen Raum war verboten. In beruflicher Hinsicht ist die Geschwindigkeit der Entwicklung sogar noch höher. Die Transformation, die das Land durchmacht, erfordert eine Vielzahl zusätzlicher, auch intellektueller Kapazitäten. Diese werden vor allem von Frauen abgedeckt, die in ihrer Berufswahl nicht mehr eingeschränkt sind. Die weibliche Emanzipation hat das Entwicklungstempo enorm beschleunigt.
Ihr Büro hat viele wichtige Projekte in Riad realisiert. Botschaftsviertel, der Wohnungsbau des Außenministeriums und das Strafgericht wurden als vorbildliche Bauten für die King Salman Charter for Architecture and Urbanism ausgewählt. Wie interpretieren Sie ihre Bedeutung?
Wenn wir ein Projekt beginnen, legen wir großen Wert darauf, eine kontextbezogene Architektur zu entwickeln. Es ist unser Ziel, den Ort selbst zu besuchen und so ein eigenes Verständnis für den Standort zu bekommen, eine Beziehung zumKunden aufzubauen und seine Gedanken zu lesen, wenn es um Details wie Materialien, Farben und so weiter geht. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, und dann entwickeln wir Konzepte mit Alternativen. All das sind sicher Gründe, warum einige unserer Bauten als Beispiele für sogenannte Salmani-Architektur ausgewählt wurden.
Besteht nicht die Gefahr einer Vereinnahmung?
Nein, das sehe ich anders. Es gibt die saudische Initiative „Architectural Identity Design Guideline Study“, zu der wir ebenfalls beigetragen haben. Derzeit arbeiten wir in den Provinzen Asir und Jizan an diesem Thema. Dort verarbeiten und filtern wir die regionale Architektur und Kultur und entwickeln Gestaltungsrichtlinien für künftige Neubauten. Diese Richtlinien werden dann sicherlich auf öffentliche Gebäude angewandt. Nicht nur in Riad spielt die Salmani Architectural Charter mit Bezug auf die Najdi-Architektur eine Rolle, sondern auch in anderen Teilen des Königreichs. Die zentrale Idee hinter all dem ist, eine kontextuelle Architektursprache für das gesamte Land zu finden. Saudi-Arabien fördert also keine disparate Art internationaler Architektur, wie man sie in Asien finden könnte. Die Saudis wenden sich von diesen stereotypen Architekturen ab – hin zu etwas, das einheimischer ist.
Wenn es um Projekte in Saudi-Arabien geht, hört man oft, eine enge oder gar freundschaftliche Beziehung zum Auftraggeber sei mehr als von Vorteil. Wie würden Sie diese Beziehung zwischen einem deutschen Architekten und einem saudischen Auftraggeber beschreiben und was macht sie besonders?
In der Vergangenheit sind viele Firmen in den saudischen Markt eingestiegen, weil sie dachten, ihre Kunden seien superreich. Manche Saudis wurden abgezockt und sind vorsichtig geworden. AS+P ist seit den Siebzigerjahren immer da gewesen, in guten wie in schlechten Zeiten, und ist Teil des gemeinsamen Erbes. Ich persönlich habe Beziehungen zu Leuten, die seit mehr als zwanzig Jahren bestehen. Lange und solide Beziehungen zählen in der arabischen Welt viel, undich bin sehr daran interessiert, diese Tradition zu ehren. Sie verleiht einem Vertrauen, Glaubwürdigkeit und Freundschaft. Zugegeben, große Worte, aber so empfinde ich es.
Riad ist heute die Boomtown auf der arabischen Halbinsel. Allerdings benötigt die 8-Millionen-Metropole einen konzertierten Städtebauplan, um die weitere Zersiedelung zu verhindern. Wie sehen Sie das im Hinblick auf die öffentliche Infrastruktur, namentlich die Metro?
Tatsächlich war die Metro in Riad mein erstes saudisches Projekt. Unsere Aufgabe war es, die Straßen neu zu gestalten, auf denen die Metrolinien verlaufen. Als die Metrolinien gebaut wurden, gab es keinen Plan, wie die Straßen wiederhergestellt werden sollten, wenn die Metro einmal in Betrieb genommen würde. Also haben wir ein Handbuch für das Straßenbild erstellt, das sich mit der Metro auf, über oder unter der Erde befasst und zum Beispiel festlegt, wie breit die Fußgängerwege sind, wie die Parkplätze organisiert sind, wie groß die Bepflanzung in der Mitte oder am Straßenrand ist, welche Materialien verwendet werden sollen und so weiter. Unser Handbuch wurde von allen sechs Design- und Baukonsortien verwendet, die an der Metro arbeiteten. Die Ergebnisse können Sie beispielsweise in der Olaya Road sehen, wenn Sie sich die Fußgänger- und Fahrradwege anschauen.
Saudi-Arabien hat ein reiches kulturelles Erbe. Lässt sich das Verhältnis zwischen Tradition und Modernität in der Architektur definieren?
Saudi-Arabien ist ein sehr junges Land, 60 Prozent der Bevölkerung sind unter 30 Jahre alt. Den anderen Teil der Gesellschaft bilden die Älteren, die traditioneller sind und an alten Gewohnheiten festhalten. Das Land muss also eine Formel finden, um mit den Erwartungen der einen wie der anderen umzugehen. Das gilt auch für die Architektur, wo man einen Zusammenprall dieser beiden Kulturen spüren kann. Daher sollte die Architektur nicht nur die Erwartungen der Jugend erfüllen, die physisch und über das Internet durch die Welt reist, sondern auch zur Tradition zurückkehren, wie zum Beispiel zu Gebäuden mit Innenhöfen, zu den Farben und zur Anordnung der Gebäude. Wenn es um ein Gleichgewicht zwischen dem Traditionellen und dem Progressiven geht, gibt es keine Formel. Es hängt ganz vom lokalen Kontext ab. Da muss man mit einem erheblichen Maß an Sensibilität ans Werk gehen.
Der britische Soziologe Anthony Giddens schrieb in seinem Buch The Consequences of Modernity zum Thema Größe: „Es geht um die Verflechtung von Distanz und Nähe, von Persönlichem und den groß angelegten Mechanismen der Globalisierung.“ Können Sie in diesen Worten ein Prinzip der architektonischen Entwicklung von Riad erkennen?
Was Sie sagen, gilt für die Architektur ebenso wie für die Stadtplanung. Wir arbeiten in Riad an einem riesigen Wohnbauprojekt namens Sedra des PIF-Entwicklers ROSHN. Es wird 180.000 Menschen beherbergen, das ist eine Stadt in der Größe Heidelbergs. Sedra wurde in sehr kurzer Zeit konzipiert und gebaut. Der wichtigste Aspekt ist, dass man Orte schafft, an denen die Menschen sich zu Hause fühlen können. Man darf den Maßstab nicht aus den Augen verlieren. AS+P hat bei solch riesigen Projekten strenge Richtlinien. Es werden Nachbarschaften geschaffen, in denen alles, was den täglichen Bedarf betrifft, innerhalb von 15 Minuten zu Fuß erreichbar ist, das eigene Wohnviertel den wöchentlichen Bedarf deckt und so weiter. Die Menschen können zu Fuß gehen, Fahrräder oder Roller benutzen und haben gemeinschaftliche Freiflächen wie einen Park in der Nähe. Europäische Planer sind bei solchen Projekten im Vorteil, denn unsere Städte entwickeln sich schon seit vielen Jahren in diese Richtung.
Das Gegenteil davon sind die großen ikonischen Projekte wie Misk/Al Mishraq. Dort muss man vorsichtig sein, denn die Gefahr besteht, dass das „Ikonische“ sehr schnell seine „Ikonizität“ verliert und banal wird. Aber ich glaube, die Stadtverwaltung von Riad ist weise genug, nicht einfach eine Stadt wie Dubai zu kopieren.
Bis zur Expo 2030 in Riad und zur Fußball-WM 2034 in Saudi-Arabien sind es nur noch wenige Jahre. Wie weit fortgeschritten sehen Sie das Land auf dem Weg, den die sogenannte Vision 2030 mit all ihren Giga-Projekten vorgibt?
All diese kommenden Event sind hervorragende Gelegenheiten, Saudi-Arabien weiter auf der Weltkarte zu etablieren. Anstatt jedoch über 2030zu sprechen, sollte man realistisch sein und über 2040 oder sogar 2050 sprechen, da das alles während eines Jahrzehnts stattfinden wird. Ich habe gerade mit Verantwortlichen der Verkehrsverwaltung in Riad darüber diskutiert, dass sie ihre Pläne für die King Fahad Road überdenken, um hunderttausende Besucher willkommen heißen und gleichzeitig einen reibungslosen Verkehrsfluss gewährleisten zu können. Die Leute denken also weit voraus, und Saudi-Arabien wird ein noch offeneres Land und sicherlich ein wichtigerer Partner der G20 werden, als es das heute schon ist.
Joachim Schares ist Diplom-Ingenieur der Raum- und Umweltplanung, Universität Kaiserslautern. Er arbeitet seit 1994 bei AS+P, seit 2017 als geschäftsführender Partner der AS+P Albert Speer + Partner GmbH. Joachim Schares ist Präsidiumsmitglied der Ghorfa Arab-German Chamber of Commerce and Industry.
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