Am Fensterplatz
Text: Klingbeil, Kirsten, Berlin
Am Fensterplatz
Text: Klingbeil, Kirsten, Berlin
Ein Parkplatz hinter dem Kopenhagener Rathaus wurde von Hall McKnight zu einem Platz umgestaltet. Die Architekten ließen sich für das gestalterische Konzept von der Fassade des ältesten Hauses am Platz inspirieren, in dem auch eine Geschichte von Hans Christian Andersen spielt.
Läuft man über den kleinen Platz auf der Nordseite von Kopenhagens Rathaus, lenkt das Muster der Pflasterung den Blick unweigerlich auf das rote Ziegelgebäude an dessen Stirnseite. Wie das Haus heißt, verrät ein goldener Schriftzug an seiner Fassade: Vartou. Es ist das älteste Gebäude am Platz, aber mit seinen drei Geschossen steht es eher unscheinbar neben der angrenzenden Bebauung und dem Rathaus mit seinem einhundert Meter hohen Turm.
Lange schien die spitzwinklige Dreiecksfläche, die sich zwischen den Straßen Vestergade und Farvergade erstreckt und zum Rathausplatz hin verjüngt, von der Stadtplanung vergessen. Hier parkten Autos. Im Rahmen des städtebaulichen Programms „A Metropolis for People“, das die Kommune Kopenhagen initiierte, um den öffentlichen Raum aufzuwerten, wurde 2009 ein offener Wettbewerb für die Umgestaltung des Platzes ausgeschrieben. Das städtebauliche Programm ist eine Reaktion auf die Prognose, dass die Bevölkerung von Kopenhagen bis 2025 um 100.000 Bewohner wachsen wird. Mit dem Programm soll die Lebensqualität in der Innenstadt gesteigert und so einem Wegzug der Kopenhagener an den Stadtrand entgegengewirkt werden. Zugleich soll das Zentrum für die unterschiedlichen Interessen der Bewohner attraktiv bleiben. Dementsprechend forderte die Wettbewerbsauslobung, den kleinen Platz hinter dem Rathaus für das tägliche städtische Leben umzubauen. In direkter Nachbarschaft zum Rathausplatz, auf dem große Veranstaltungen wie Konzerte, Stadt- und Staatsfeierlichkeiten aber auch Freiluftausstellungen stattfinden, soll der Platz eine eigene Identität entwickeln.
Von einem Fenster in Vartou
Den Wettbewerb gewannen die nordirischen Architekten Hall McKnight, die das Gestaltungskonzept an die Geschichte „Von einem Fenster in Vartou“ von Hans Christian Andersen angelehnt haben: Am Fenster des Armenhauses steht eine alte Jungfer. Sie schaut Kindern zu, die nebenan auf dem grünen Stadtwall spielen. Dabei steigen in ihr Erinnerungen an das eigene Leben auf und an eine Sage, die davon erzählt, dass hier einst ein unschuldiges Kind in ein offenes Grab unterhalb des Walls gelockt und dort lebend eingemauert wurde. Dieses Menschenopfer habe den Wall stabilisiert. Die hier fröhlich spielenden Kinder wissen nichts von der traurigen Legende, aber der Blick der alten Frau ist durch sie geprägt. Heute kennen nicht mehr viele Dänen Andersens Novelle. Doch die Architekten haben deren zentrales Motiv – die alte Frau am Fenster, der Blick zurück auf die eigene Geschichte – als gestalterisches Element aufgegriffen. Die regelmäßige Lochfassade des Hauses wurde abstrahiert und auf den Platz gespiegelt. Mit verschiedenen Materialien, Granit und Ziegel, wurde das Muster in der Pflasterung nachgelegt. Es ist senkrecht zum Gebäude ausgerichtet und verläuft schräg über den Platz. Nach den ersten drei „Fensterreihen“, die die Höhe des Gebäudes markieren, wechseln die Materialien: Die Fenster, zuvor aus Granit, sind nun mit Ziegeln ausgeführt, das Ziegelmauerwerk mit Granit. Dieser war zum Teil schon früher hier verlegt und wurde mit neuen Granit- und Ziegelsteine, alle in rot-grauen Tönen, verbaut.
Um den Platz von dem lebhafteren vor dem Rathaus abzugrenzen, gliederten die Architekten ihn in drei Teile: einen Bereich vor dem Haus Vartou, einen Kirschbaumhain und einen breiten Fußweg, der ihn mit dem Rathausplatz, der Fußgängerzone und mit einer Metrostation verbindet, die derzeit noch im Bau ist. An zwei Seiten wird der Platz von angrenzenden Häusern gefasst, an der dritten Seite von der Straße Vester Voldgade und der Turmseite des Rathauses. Um den Fußweg von der Straße abzugrenzen, wurden entlang dieser Fahrradständer aufgestellt. Über den Platz verlaufen zwei Fahrbahnen, die für den Autoverkehr offen sind. Sie wurden hier ebenfalls neu gepflastert, um die Oberfläche einheitlich zu gestalten.
Auf diese Weise ist ein Raum mit ganz unterschiedlichen Aufenthaltsqualitäten entstanden. Läuft man über den Fußweg zum Rathausplatz, vorbei an den Kirschbäumen und der Statue der Lurenbläser, wird die räumliche Qualität des Ortes sichtbar. Die Bäume schirmen den Platz zur belebten Innenstadt hin ab, die Bänke um den Kirschbaumhain laden zum Verweilen im Schatten ein, und in einer Ecke hat ein Café bereits Stühle und Tische aufgestellt. Auch das ist Teil des Programms der Stadt: Zur Förderung des urbanen Lebens ist es erlaubt, ohne Gebühren zahlen zu müssen, Tische und Stühle in den Stadtraum zu stellen.
Auf den rechteckigen Steinblöcken, die vereinzelt auf den „Fenstern“ liegen, darf man sich ebenfalls niederlassen. In einen dieser Blöcke ließen die Architekten Andersens Geschichte eingravieren. Durch das regelmäßige Muster und die Granitblöcke wird bei den Passanten unweigerlich das Bild eines steinernen Friedhofs erweckt. Damit wollten die Architekten daran erinnern, dass auf dem Platz früher einmal ein Friedhof war. Die Geschichte des Ortes wurde in seine neue Architektur eingewebt. Die Fenster, die sich über den Platz ziehen, öffnen den Blick in die Vergangenheit und holen so die Geschichte des Ortes an die Oberfläche zurück.
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