Am Koloss verzweifeln
Nutzungskonzepte für den Justizpalast in Brüssel
Text: Redecke, Sebastian, Berlin
Am Koloss verzweifeln
Nutzungskonzepte für den Justizpalast in Brüssel
Text: Redecke, Sebastian, Berlin
Der marode Justizpalast in Brüssel symbolisiert auf tragische Weise den Zustand des Staates Belgien. Jetzt haben sich Architekten Gedanken um die Zukunft des gigantischen Gebäudes gemacht. Sollte man es partiell abreißen und einfach Stadt drüber wachsen lassen?
Belgien ist seit fast einem Jahr ohne Regierung. Die politischen Parteien in Flandern und Wallonien sind untereinander zerstritten und können sich nicht auf eine Koalitionsregierung, geschweige denn einen Premierminister einigen. Die Regionalregierungen der beiden Landesteile gewinnen mehr und mehr an Einfluss. Der 1866–83 erbaute Justizpalast in der Hauptstadt Brüssel hingegen steht für die Einheit des Landes. Die belgischen Könige Leopold I. und Leopold II. wollten mit diesem symbolkräftigen Koloss hoch über der Stadt ein Zeichen für den damals noch jungen, 1830 gegründeten belgischen Staat setzen. Für das Projekt stand ihnen viel Geld zur Verfügung, das durch Verkäufe von Rohstoffen aus Belgisch-Kongo in ihre Kasse geflossen war.
Noch heute ist der Justizpalast der größte in Europa. Doch paradoxerweise symbolisiert gerade dieser „Palast der Einheit“ derzeit den politischen Zustand in Belgien: Er ist marode und instabil. Der Tambour der Kuppel ist seit 25 Jahren eingerüstet, Schutzdächer und Gerüste an den Fassaden sind nö- tig, um die Besucher vor Steinfall zu schützen. Zahlreiche Säle sind aufgrund von Bauschäden nicht mehr nutzbar. Mehrere Abteilungen der Justizbehörden sind wegen dieser Zustände bereits in Neubauten in der Nachbarschaft umgezogen.
Angesichts dieser Tatsachen würde man eigentlich ein staatliches Projekt erwarten, das die Schäden endlich behebt und innen die erforderlichen Umbauten vornimmt. Davon ist aber nicht die Rede. Stattdessen lobten die „Régie des Batiments“ (Baugesellschaft für Staatsbauten des Landes) und die oberste Justizbehörde vergangenes Jahr einen internationalen offenen Ideenwettbewerb unter dem Titel „Brussels Courthouse, Imagine the Future!“ aus.
Für nur fünf Euro Gebühr konnte sich jedermann die Wettbewerbsunterlagen schicken lassen. Allerdings war das Projekt kaum publik gemacht worden. In Brüssel war zu hören, dass der Wettbewerb – politisch motiviert – während der EU-Ratspräsidentschaft Belgiens ausgelobt wurde und reiner Aktionismus gewesen sei. Man hatte offenbar den Eindruck erwecken wollen, dass man das ewige Problem Justizplast endlich in den Griff bekommt und dabei sogar für neue Ideen offen sei. Ziel scheint allein, Zeit zu gewinnen. Die Kosten verschlingende Aufgabe wird weiter auf die lange Bank geschoben.
Zwei Szenarien mit offenem Programm standen für die Wettbewerbsteilnehmer zur Auswahl: Zum einen: Die Justiz zieht vollständig aus, das Gebäude wird umgenutzt. Hierbei sollte der Bau, der als hermetisch, düster und erdrückend angesehen wird, vor allem zugänglich gemacht werden. Zum anderen: die Justiz bleibt im Gebäude, andere Nutzungen kommen hinzu. Hierbei waren auch Ideen für den weiten Vorplatz am Haupteingang und die Rampen vor dem gewaltigen Sockel des Gebäudes, die in das kleinmaßstäbliche Marolles-Viertel der Unterstadt hinabführen, erwünscht. Über tausend Interessierte bestellten die Unterlagen, doch nur 194 reichten ein Projekt ein. Internationale bekannten Namen sind nicht zu finden. Wirkte die schiere Größe des Palastes abschreckend? Vor allem innen scheint die in ein festes Schema gedrückte Gigantomanie freie Ideen blockiert zu haben.
Der erste Preis für das Szenario „Justiz zieht aus, neue Nutzung“ ging an das Brüsseler Büro Scale. Für die beiden Architektinnen ist der Justizpalast ohne Justiz überflüssig. Sie schlagen deshalb vor, ihn Stück für Stück zurückzubauen, bis nur noch Fragmente übrig sind. Diese Fragmente sollen mit der alten Struktur des Stadtquartiers, das hier wieder seinen Platz einnehmen könnte, zusammenwachsen und an den Palast, vor allem an seine Dimension, erinnern. Als Referenzen führen die Verfasserinnen Reste von antiken Bauten in mittelalterlichen Stadtkernen in Südeuropa an.
Sieger für das Szenario „Justiz bleibt, neue Nutzungen kommen hinzu“ ist eine Arbeitsgemeinschaft junger Architekten aus Brüssel, die sich um die Gruppen T.O.P. office und Expo68 gebildet hat. Sie wollen den Sockel des Gebäudes mit einer Fläche von 15.000 Quadratmetern neu gestalten und öffentlich zugänglich machen. Dabei sollen mit den Achsen der früheren Straßen auf dem Gelände neue Wegeverbindungen zwischen den umliegenden Quartieren entstehen. Die Justizbeamten sollen weitgehend in ihren Räumen bleiben. Die zentrale Halle und der Turm mit Kuppel sind für Kulturveranstaltungen vorgesehen und sollen auch touristisch genutzt werden.
Während der Bekanntgabe der Preisträger und der Präsentation der Entwürfe am 30. März trat erneut die Zerstrittenheit im Land in den Vordergrund, denn auch die Präsidenten der beiden obersten Gerichtshöfe des Landes, die im Justizpalast ihren Dienst tun, sind sich uneins: Der eine will nach einer grundlegenden Sanierung und Umbauten in jedem Fall bleiben, da der Bau unverrückbar zur Geschichte der Landes gehöre – der andere, ein Pragmatiker, will den Bau so schnell wie möglich für eine andere Nutzung aufgeben, damit in einem Neubau ohne das überkommene Pathos eine den heutigen Ansprüchen angemessene juristische Arbeit möglich wird.
Wie es nun weitergeht weiß in Brüssel derzeit niemand zu sagen. Man will die nächste Regierung abwarten.
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