Appropriating Mies
Rethinking Mies
Text: Kuehn, Wilfried, Berlin
Appropriating Mies
Rethinking Mies
Text: Kuehn, Wilfried, Berlin
Eine Architektur fast ohne Adjektive ist kaum nachzuahmen. Gibt es eine Mies-Schule? Vielleicht ist Mies van der Rohes adjektivarme Architektur in ihrer Nachahmung auch schwer zu erkennen. Aber warum nach familiärer Ähnlichkeit von Mies-Abkömmlingen suchen statt nach der Identität eines Klons und der Differenz von Bastarden?
Eine Architektur, die Mies van der Rohes Skizze für ein Haus in den Bergen (1934) 1:1 umsetzt: Philip Johnsons Haus Leonhardt (1956) ist Kopie und Aneignung zugleich, ein offensichtliches Mies-Derivat, doch eigenständig als direkte bauliche Umsetzung einer Skizze, aus der Mies selbst nicht einmal einen Plan gemacht hatte, noch dazu an einem Ort, der nicht mit der Berglandschaft bei Mies zu verwechseln ist. Aber die Mies-Skizze hat auch eine eigene Karriere, wie zum Beispiel in Stefan Wewerkas „Erdarchitekturen“, ausgestellt in der Wiener Galerie Nächst St.Stephan 1958. Mies’ Skizze eines auskragenden Glascontainers wird von Wewerka 1984 mit der Erdarchitekturzeichnung von 1958 zu einem Doppelbild zusammenmontiert 3. Ist die Mies-Skizze das geheime Modell Wewerkas?
Bad Karlshafen, 1978. Stefan Wewerka lässt Mies wiederauferstehen, indem er Pläne beim Bauamt einreicht, die mit „L Mies v d Rohe“ unterzeichnet sind. Wewerka: „Von Mies gibt es phantastisch ausgereifte Entwürfe. Warum sollte man die heute nicht bauen?“ Auf einen massiven Steinsockel ist ein filigraner Glaspavillon montiert, bei dem es sich um Mies’ „50 by 50 House“ handelt, einen nie gebauten Entwurf von 1951, den Mies mit seinem Mitarbeiter Myron Goldsmith ohne Auftrag entwickelt hatte . Der Pavillon auf quadratischem Grundriss mit 50 Fuß Breite besitzt ein Tragwerk aus vier Stützen und einem kreuzweise gespannten Dach. In ihrer axialen Position lassen sie den Innenraum wie auch die Ecken frei: der Prototyp der späteren großen Entwürfe für Bacardi und die Neue Nationalgalerie.
Die windmühlenartig eingestellten Wände in einer Skizze des „50 by 50“ machen es unerwartet als Folge des Grundrisses der Mies-Ausstellung im MoMA 1947 lesbar, dessen ebenfalls ungerichtet-quadratische Form durch vier windmühlenartige Wände dynamisiert wird: Raumhohe Fototapeten erzeugen asymmetrische Blickachsen, die den Parcours durch die Ausstellung kinästhetisch strukturieren.
Wewerka stellt den Glaspavillon in seiner Aneignung auf einen Sockel, als sei der Prototyp von 1951 retroaktiv zur Miniatur der Neuen Nationalgalerie mutiert. Das Projekt wird im Bauamt Bad Karlshafen im Weserbergland 1978 eingereicht, ein knappes Jahrzehnt nach Mies’ Tod. Der Bauherr ist Axel Bruchhäuser, Eigentümer der Möbelfirma Tecta in Lauenförde, die neben Wewerka-Entwürfen unter dem Titel „Die Moderne by Tecta“ auch serielle Reproduktionen von Mies-Freischwingern herstellt. Doch das Bauprojekt scheitert im Amt, und nicht aus architektonischen Gründen. Die Landschaft ist unverbaubar und Axel Bruchhäuser wird zurückgeworfen auf das Bestandsgebäude am Grundstück, ein kleines spitzgiebliges Fachwerkhaus.
London, 1981. Noch einmal die Mies-Skizze für ein Haus in den Bergen von 1934, nun von Alison und Peter Smithson unter dem Titel „Three Generations“ zu einer Montage mit Charles & Ray Eames und ihrem eigenen Entwurf kombiniert: „Die Geschichte der Diagonalstrebe über drei Generationen: Mies: Skizze für ein Glashaus am Hang, 1934; Eames: schwarze Drahtstühle mit Vogel, 1952; A. & P. Smithson: Lucas Building, 1973“.
Die Smithsons haben sich in jedem ihrer Projekte mit Mies auseinandergesetzt, ohne seine Schüler zu sein. Wenn Alison Smithson ihren „Upper Lawn Pavilion“ als „neo-brutalist grandchild of the Barcelona pavilion“ bezeichnet, spricht daraus zugleich Nähe und Distanz. Mies ist für die Smithsons nicht Vorlage für 1:1-Kopien wie bei Johnson und auch nicht für Entwurfscollagen wie bei Wewerka, sondern ein Modell, das konzeptuelle Ableitungen ermöglicht. Mies ist für die Smithsons eine Themenmaschine.
Bad Karlshafen, 1986. Nachdem die Smithsons wie Stefan Wewerka zu Möbelentwerfern für Tecta geworden sind, werden sie auch in Axel Bruchhäusers Privathaus als Architekten tätig. Das Bestandsgebäude, mit dem sich die Smithsons für Axel Bruchhäuser befassen, ist ein alltägliches Nachkriegshaus. Den Wunsch des Bauherrn, einen Pavillon in der Landschaft zu erhalten, wie ihn Wewerka erfolglos projektiert hatte, realisieren die Smithsons auf andere Art. Statt ein neues Haus in die Landschaft zu stellen, holen sie die Landschaft in das alte Haus. Die Smithsons erweitern das Haus, indem sie es durch Fenster, Erker und Porches aufweiten. Es erhält Augen und weitet sich zur Landschaft oder zieht die Landschaft heran wie durch eine optische Sehmaschine. Die diagonale Strebe und die orthogonale Rahmung verbinden sich zu einer Schichtung, die im kleinen Baumhaus auch in die dritte Dimension geht und den Blick nach unten lenkt.
Aber geht es dabei noch immer um die diagonale Strebe? In „Mies Pieces“ schreiben die Smithsons 1994: „Almost without exception, Mies’ buildings seem to have the space around them within them already“. In ihrer eigenen Werkmonografie nennen sie es „Outside Inside“, Raumtiefe zwischen Innen und Außen durch Schichtung und Rahmung. Dies ist ein Raummodell, das direkt auf Mies zurückgeht und das die Smithsons zuerst ganz unabhängig von der diagonalen Strebe in ihrer Mies-Aneignung entwickeln: Das „Resor House“ (1938) von Mies ist durch streng orthogonale Fotomontagen kodiert, die Landschaft und Einrichtung als gestaffelte Raumschichten erlebbar machen und dazu Paul Klees Bilder in den Mittelgrund schieben.
Mies’ Montage für den Entwurf eines Museums (1942) ersetzt die Einrichtung durch Skulpturen, Klees „Bunte Mahlzeit“ durch Picassos „Guernica“. In ihrer Perspektive für das Fitzwilliam Museum Cambridge (1949) folgen die Smithsons dem Schichtungsprinzip, das Mies mit den Fotowänden der MoMA-Ausstellung modellhaft realisiert hatte, bis in die Darstellungsform. Die Bewegung des Bewohners ist das Mittel einer Montage, die den
Raum als filmische Sequenz in der subjektiven Wahrnehmung strukturiert. Dieser Raum ist nicht durch die klassische Perspektive darstellbar, sondern durch Montagen, die ein zeitliches Erleben evozieren.
Raum als filmische Sequenz in der subjektiven Wahrnehmung strukturiert. Dieser Raum ist nicht durch die klassische Perspektive darstellbar, sondern durch Montagen, die ein zeitliches Erleben evozieren.
Der durch die Eames und die Smithsons zu uns kommende Mies ist thematisch: Es geht darum, was wir in ihm sehen und mehr noch, was wir in ihn hineinsehen. Als Themenmaschine heterogener Aneignungen ist Mies heute präsent und neben Loos derjenige Architekt, mit dem wir uns in der täglichen Entwurfsarbeit am meisten konfrontieren. Durch das Prinzip der aktivierenden Raumschichtung, das eine Interaktion von Display und Wahrnehmung schafft, rückt das Ausstellen auf jeder Ebene in den Fokus. Der Hintergrund schlägt zurück.
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